Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
Vom Netzwerk:
war. »Wo ist Anna?«
    Phyllis und Estelle verstummten und neigten ihr besorgt und verschwörerisch die Köpfe zu. »Auf der Toilette. Sie will nicht, dass wir ihr beim Anziehen zuschauen«, sagte Estelle. »Ich glaube, es ist ihr peinlich.«
    »Und sie hat geweint«, sagte Phyllis. »Er hätte sie gestern Abend besuchen sollen, aber er ist nicht gekommen.«
    »Aber er kommt doch heute Abend, oder?«
    Die Mädchen sahen einander an, doch dann kam Anna wieder herein, aufgeregt wie immer, in einem Kostüm mit weitem Rock, das an den Nähten etwas stramm saß. Dazu trug sie einen riesigen Strohhut, auf dem eine etwas schäbige Schneehuhnfeder zitterte.
    »Sind wir so weit?«, fragte sie fröhlich. »Dann los, lasst uns gehen.«
    Der Golem beabsichtigte, sich am Rand der Tanzveranstaltung aufzuhalten, aber unterwegs wurde ihr klar, dass Anna und ihre Freundinnen sie in den Mittelpunkt stellen wollten. Sie scharten sich um sie, deckten sie mit Anweisungen und Ratschlägen ein. »Sei nicht zu bereitwillig, aber auch nicht zu wählerisch«, sagten sie. »Tanz nicht den ganzen Abend mit dem ersten, der dich auffordert. Und wenn dir ein Mann nicht gefällt, sag nein. Lass dich nicht unterkriegen, wenn dir einer frech kommt.«
    »Hab keine Angst«, beruhigte Anna sie, die die erschrockene Miene ihrer Kollegin sah. »Eine von uns wird immer auf dich aufpassen, nicht wahr?« Die Mädchen nickten und kicherten und drückten ihren Arm; und der Golem fügte sich in sein Schicksal.
    Sie näherten sich ihrem Ziel und reihten sich ein in die Menge gut angezogener junger Frauen und Männer, die alle einer unauffälligen Tür in der Broome Street zustrebten. Der Golem hörte Musik. Sie spürte, wie sie gestoßen und gedrängt wurde, ihre Gedanken ebenso wie ihr Körper. Glücklicherweise waren die Leute gut gelaunt, fröhlich und zum Flirten aufgelegt; die Frauen machten sich entzückt gegenseitig Komplimente, während die Männer scherzten und aus Flachmännern tranken.
    Ein kräftiger Mann saß auf einem Hocker neben der Tür und sammelte den Eintritt ein: fünfzehn Cent von den Damen und fünfundzwanzig von den Herren. »Das ist Mendel«, sagte Anna. Sie winkte und bedachte ihn mit einem strahlenden Lächeln. Mendel grinste ein bisschen verdattert und winkte sie durch. »Er verehrt mich seit Jahren«, flüsterte Anna.
    Hinter der Tür folgte ein dunkler Korridor voller Menschen, die weiterdrängten. Einen Augenblick lang überkam den Golem Panik, weil sie dachte, sie könnte aus Versehen jemanden erdrücken. Doch dann wurde sie von der Menge hinter ihr weitergeschoben – in den erstaunlichsten Raum, den sie jemals gesehen hatte. Er war riesig und hoch und fasste die Menschenmenge mühelos. Kronleuchter aus Messing mit Behängen aus geschliffenem Glas warfen ihr flackerndes Licht auf die Leute im Saal. An den Wänden glitzterten Gaslampen und Kerzenleuchter, vervielfacht von mit Spiegeln verkleideten Säulen. Es sah aus wie ein funkelndes Märchenland, das sich bis in die Ferne erstreckte.
    Sie schaute sich fasziniert um. Zu jeder anderen Zeit hätte sie eine so große Menschenmenge überwältigt; doch das unerwartete Spektakel und die einhellig gute Laune der Besucher übertönten ihre Angst mit etwas, was sich wie Entzücken anfühlte.
    »Was meinst du?« Estelle musste ihr nahezu ins Ohr schreien, um sich Gehör zu verschaffen. »Gefällt es dir?«
    Sie konnte nur nicken.
    Anna lachte. »Ich habe es dir doch gesagt. Und jetzt komm, bevor alle guten Tische besetzt sind.«
    Sie gingen an einer langen Theke aus Holz vorbei, die mit diversen Getränken und Bierflaschen gefüllt war. Jenseits davon standen reihenweise runde Tische. Kellner in Jacken gingen zwischen den Tischen hin und her, drehten zur Theke ab und kamen mit Tabletts voller Bier wieder zurück. Der Rest des Raums war eine offene Fläche Parkett, auf der sich bereits Männer und Frauen eingefunden hatten. Die Kapelle saß auf einer erhöhten Bühne in einer Ecke; ein rundlicher Mann in einem verschlissenen Frack dirigierte sie mit einem dünnen Taktstock.
    Der Golem folgte Anna und ihren Freundinnen zu einem Tisch am Rand der Tanzfläche. Bald waren sie umgeben von Bekannten, und alle umarmten sich, lachten und tauschten Klatsch aus. Anna, die ihre Rolle als Freundin des unbekannten Mädchens sichtlich genoss, sorgte dafür, dass ihr alle vorgestellt wurden. Der Golem sagte ein Dutzend Mal hallo, lächelte, merkte sich die Namen. Das Plaudern fiel ihr anfangs schwer,

Weitere Kostenlose Bücher