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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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an. Da ist im Grand Casino in der Broome Street Tanz. Ich kann dich kostenlos reinbringen, ich kenne Mendel, den Türsteher. Ich werde dich meinen Freundinnen vorstellen, sie kennen die besten Männer.«
    Tanz? An einem unbekannten Ort, umgeben von Fremden? »Aber ich war noch nie – ich kann nicht tanzen.«
    »Wir werden es dir beibringen. Es ist nichts dabei. Wenn du gehen kannst, kannst du auch tanzen.« Sie fasste den Golem an den Händen. »Ach,
bitte
komm, Chava. Es würde mir so viel bedeuten. Und du wirst Irving kennenlernen. Er hat mir versprochen zu kommen.« Sie kicherte. »Ich möchte mit ihm tanzen, solange ich meine Füße noch sehen kann!«
    Das veränderte die Lage. Wenn sie Irving kennenlernte, könnte sie mit eigenen Augen sehen, zu welcher Sorte Mann er gehörte; das würde sie hoffentlich beruhigen. Was das Tanzen anbelangte, könnte sie vielleicht Müdigkeit vorschützen oder wunde Füße. Aber Moment, was war mit Ahmad? Sie sollte ihn morgen treffen! »Um wie viel Uhr beginnt der Tanz?«
    »Um neun Uhr.«
    So früh? Das besiegelte die Sache. Ahmad kam nie vor elf Uhr. Sie konnte in das Tanzlokal gehen und Irving kennenlernen und vielleicht sogar ein-, zweimal tanzen, wenn es Anna glücklich machte. Und dann würde sie sich entschuldigen und den Dschinn unter ihrem Fenster treffen. »Na gut«, sagte sie und lächelte. »Ich werde kommen.«
    »Wunderbar!«, rief Anna. »Wir treffen uns um halb neun, bei meinen Freundinnen Phyllis und Estelle« – sie nannte ihr eine Adresse, ein Mietshaus in der Rivington Street –, »dann gehen wir gemeinsam hin, nicht zu früh. Man darf nie zu früh zu einer Tanzveranstaltung gehen, das sieht zu erwartungsvoll aus. Mach dir keine Gedanken, was du anziehen sollst, zieh einfach deine beste Bluse an, das machen wir alle so. Ach, ich bin so aufgeregt!« Anna umarmte sie ungestüm, und der Golem erwiderte die Umarmung amüsiert; und dann lief das Mädchen mit schwingendem Umhang die Straße entlang.
    Der Golem ging weiter nach Hause. Es wurde bereits dunkel, und die Straßenhändler tätigten die letzten Geschäfte. In der Nähe ihrer Pension kam sie an einem jungen Mann vorbei, auf dessen Handwagen Stapel von Frauenkleidern lagen. An der Seite des Karrens war ein Schild festgenagelt:
Beste Damenmode
; und darunter in kleineren Buchstaben:
Bitte um Entschuldigung, ich bin stumm.
Der Golem dachte daran, was Anna über Blusen gesagt hatte. Sie blickte auf ihre schlaffen Manschetten, die so ausgefranst waren, dass sich Flicken nicht mehr lohnte. Ihre andere Bluse sah auch nicht besser aus.
    Sie ging zu dem Mann und tippte ihm auf die Schulter. Er stellte die Schubkarre ab und wandte sich ihr mit hochgezogenen Augenbrauen zu.
    »Hallo«, sagte sie nervös. »Ich gehen morgen tanzen. Haben Sie eine Bluse zum Tanzen?«
    Er hob eine Hand, eine Geste, die besagte:
Kein Wort mehr.
Er nahm ein Maßband aus der Tasche und bedeutete ihr, die Arme zur Seite zu strecken. Sie tat es und amüsierte sich über die Präzision seiner Gesten, die keinen Raum für Interpretation ließen. Vielleicht sollten wir alle lernen, stumm zu sein, dachte sie.
    Er nahm mit flinken Bewegungen ihre Maße, rollte das Maßband zusammen und hob nachdenklich eine Hand ans Kinn. Dann wandte er sich seinem Wagen zu und suchte in einem Stapel Blusen. Mit einer ausholenden Bewegung zog er eine heraus und hielt sie hoch. Es war definitiv keine Arbeitsbluse. Der cremefarbene Stoff war dich gewebt, wesentlich feiner als der ihrer Bluse. Hauchdünne Rüschen zogen sich die Vorderseite hinauf und um den hohen Kragen; auch an den Manschetten befanden sich Rüschen. Die Taille war so schmal, dass sich der Golem fragte, wie man darin noch atmen konnte. Der Mann hielt sie ihr hin –
ja
?
    »Wie viel?«
    Er hielt vier Finger hoch; in seinen Gedanken sah sie drei. Sie unterdrückte ein Lächeln. Manche Tricks waren universell, gleichgültig in welcher Sprache.
    Die Bluse war eine Extravaganz, aber sie konnte sie sich leisten. Sie öffnete ihre Börse, zählte vier Dollar ab und gab sie dem Händler. Der junge Mann riss überrascht die Augen auf. Er reichte ihr die Bluse und nahm das Geld etwas verlegen an. »Danke«, sagte sie und ging weiter.
    Sie war erst ein paar Schritte weit gekommen, als der Händler an ihr vorbeilief, vor ihr stehenblieb und die Hände hob:
Einen Moment.
Aus seiner Jackentasche nahm er zwei unechte Schildpattkämme mit Griffen in Form von Rosen. Er hob eine Hand und strich ein paar lose

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