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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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eine kräftige Person wie sie. Sie wusste, dass Michael Kleider wie dieses als überflüssige Extravaganz betrachtete. Aber sie hatte es für sich genäht, nicht für ihn; sie hatte fleißig daran gearbeitet, mit jedem Stich entschlossener, alles dafür zu tun, damit dieses Arrangement funktionierte und sie sich an den eingeschlagenen Weg hielt. Sie weigerte sich jedoch, einen Schleier zu tragen. Sie würde mit unverhülltem Gesicht heiraten.
    Von der Halle unten drangen Geräusche herauf: Männer, die lachten. Es war fast so weit.
    Sie drückte eine Hand auf die Brust und tastete nach der soliden Form des Medaillons unter ihrem Kleid. Statt des verlorenen Zettels befand sich darin jetzt ein gefalteter Zeitungsausschnitt:
Rätselhafter Überfall hinter Tanzlokal
, lautete die Überschrift. Sie trug ihn mit sich als Erinnerung an die Fehler, die sie begangen hatte, und an das Leben, das sie nun hinter sich ließ.
    Sie hatte die Zeitungen durchsucht, aber es waren keine weiteren Berichte über Irvings Zustand erschienen. Sie wusste nicht, ob er am Leben war, oder ob die Polizei noch nach dem Täter suchte. Doch selbst jetzt noch, fast einen Monat später, rechnete sie halb damit, verhaftet zu werden, wann immer sie auf die Straße ging.
    Anna war nach diesem Abend nicht mehr zur Arbeit gekommen. Die Radzins hatten den kleinen Abe zu ihr nach Hause geschickt, und ihre Vermieterin erzählte, dass das Mädchen gepackt und wortlos ausgezogen sei. Mrs. Radzin erklärte sich als krank vor Sorge, aber Mr. Radzin meinte, er habe ein Geschäft am Laufen zu halten, und bald stand ein Mädchen namens Ruby hinter Annas Tisch. Ruby war unauffällig, kuhäugig und lachte nervös, wenn jemand sie auch nur ansah; doch sie war fügsam und sprach wenig, und deswegen ertrug Mr. Radzin sie.
    Sie waren jetzt unten in der Halle, die Radzins und Ruby, die Vermieterin des Golems und Michael mit seiner kleinen Gruppe von Freunden. »Möchtest du nicht noch jemanden einladen?«, hatte Michael sie gefragt. Sie hatte gelächelt und den Kopf geschüttelt. Wen hätte sie noch einladen sollen? Niemanden außer dem Mann, der sie am besten kannte.
    Sie runzelte die Stirn und strich ihr Kleid glatt, als wollte sie etwas wegwischen. Sie musste jetzt wachsam sein und durfte diese Chance, neu anzufangen, nicht ruinieren. Sie wollte keinen Gedanken an den Dschinn mehr zulassen, und sie würde nicht, auf gar keinen Fall darüber spekulieren, was er zu dieser Eheschließung sagen würde, wenn er davon wüsste.
    Die Tür wurde geöffnet, und sie erschrak. Ein dünner alter Mann in einem dunklen Anzug stand auf der Schwelle.
    »Sie müssen Mr. Schall sein«, sagte sie. »Michael hat mir so viel von Ihnen erzählt.«
    Der alte Mann lächelte freundlich. »Bitte nennen Sie mich Joseph«, sagte er.
    Sie stand auf und legte ihm die Hand auf den Arm. Sie war einen guten Kopf größer als er, dennoch fühlte sie sich klein und unsicher. Würden ihr letztlich doch die Nerven versagen? Nein, sie streckte den Rücken, fasste fester zu und zwang sich, vorwärts zu gehen.
    Gemeinsam verließen sie das Zimmer.

    Yehudah Schaalman führte den Golem in die Halle hinunter und achtete darauf, Haltung zu bewahren. Es war nicht einfach; am liebsten hätte er laut gelacht. Als Michael Levy ihn gebeten hatte, den Platz des Brautvaters einzunehmen, hatte er seine gesamte, nicht unerhebliche Willensstärke aufbieten müssen, um sich nichts anmerken zu lassen. »Wenn sie damit einverstanden ist, dann mache ich es gern«, hatte er gesagt. Eine Woche zuvor hatte er sich für die Zielscheibe eines kosmischen Witzes gehalten, aber jetzt war er mit dem Lachen an der Reihe. Die errötende Braut, die er selbst erschaffen hatte!
    Er stellte sie neben ihrem Bräutigam ab, der vor dem schwarz gewandeten Friedensrichter stand. Es war warm in dem Raum, und die jüngeren Männer, die sich nie sklavisch an die Etikette hielten, hatten ihre Jacketts ausgezogen. Schaalman hätte gern das Gleiche getan, doch er durfte es nicht riskieren. Sein linker Unterarm war dick bandagiert, und ohne Jackett wäre das zu sehr aufgefallen, vor allem wenn wieder Blut durch den Verband sickerte. Aber diesen kleinen Preis war es wert gewesen, wenn er sie jetzt so vor sich sah. Stocktaub für seine Gedanken und Wünsche, sie hatte keine Ahnung, wer er war oder was er wollte. Seine Vorbereitungen erwiesen sich als so erfolgreich, wie er gehofft hatte.
    Wieder einmal hatte er die Antwort in seinem kostbaren

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