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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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dass nicht er ihr Problem lösen konnte, worin auch immer es bestand. Doch er wurde das Gefühl nicht los, dass sie ihn in diesem Augenblick für irgendetwas zur Rechenschaft hatte ziehen wollen.

    Abu Yusuf saß auf dem Boden des Krankenzelts und hielt die Hand seiner Tochter. Drei Tage waren vergangen, seitdem Fadwa krank geworden war, und er war die ganze Zeit nicht von ihrer Seite gewichen. Er sah, wie ihre Finger im Traum nach Luft griffen, hörte, wie sie stöhnte und wirres Zeug murmelte. Einmal hatten sie sie überredet, die Augen zu öffnen, aber als das Mädchen einen Blick auf Abu Yusuf warf, hatte sie entsetzt aufgeschrien und gewürgt. Danach hatten sie ihr die Augen mit einem schwarzen Tuch verbunden.
    Das Wort
besessen
hing in der Luft, war in jedem Blick zu lesen, aber niemand sprach es aus.
    Abu Yusufs Brüder übernahmen wortlos seine Pflichten. Fatim verrichtete ihre Arbeit wie gewöhnlich, murmelte, dass irgendjemand sie ja ernähren müsse und es Fadwa nicht helfe, wenn sie alle verhungerten. Alle paar Stunden brachte sie eine Schale verdünnten Joghurt in das Krankenzelt und flößte ihrer Tochter so viel wie möglich davon ein. Ihre Augen waren gerötet, und sie sagte kaum etwas, schaute nur zu ihrem Mann hinüber, der dort saß und sich im stillen Vorwürfe machte. Er hätte Alarm schlagen müssen, als er den Palast gesehen hatte, den es nicht geben konnte. Er hätte seine Tochter nehmen und mit ihr weit, weit fort reiten sollen.
    Am Ende des zweiten Tages hatten sich Vorwürfe in Fatims Blick geschlichen.
Wie lange
, schien sie zu sagen,
wirst du hier sitzen und nichts tun? Wie lange soll sie leiden, wenn du doch weißt, was zu tun ist?
Und ein Name tauchte unausgesprochen zwischen ihnen auf:
Wahab Ibn Malik.
    Er wollte ihr erwidern, dass es die Vernunft gebot, abzuwarten und zu sehen, ob sich Fadwas Zustand bessern würde, bevor er diesen Weg einschlug. Dass er keine Ahnung hatte, ob Ibn Malik überhaupt noch lebte. Aber am Morgen des dritten Tages musste er sich eingestehen, dass sie recht hatte. Fadwa ging es nicht besser, und seine Vernunft wirkte zunehmend wie Feigheit.
    »Genug«, sagte er und stand auf. »Sag meinen Brüdern, sie sollen ein Pferd und ein Pony satteln. Und bring mir eins von den Mutterschafen.« Sie nickte grimmig und verließ das Zelt.
    Er packte Proviant für eine Woche ein, dann setzte er Fadwa auf das Pony, fesselte ihr die Hände und band sie am Sattel fest. Ihr Kopf mit den verbundenen Augen rollte vor und zurück, wie bei jemandem, der Wache halten soll und dabei immer wieder einnickt. Er band das Schaf mit einer langen Leine an Fadwas Pony fest. Dann stieg er auf sein Pferd, nahm die Zügel des Ponys und führte sie aus dem Lager: eine bedauernswerte, halb blinde Prozession. Niemand hatte sich eingefunden, um sie zu verabschieden. Stattdessen spähte ihnen der Clan aus Zeltfenstern und -türen nach und betete lautlos für ihre wohlbehaltene Rückkehr und um Schutz vor dem Mann, den sie aufsuchen wollten. Nur Fatim stand im Freien und sah ihrem Mann und ihrer Tochter nach, bis sie verschwunden waren.
    Ibn Maliks Höhle befand sich in den westlichen Hügeln, in einem felsigen, windgepeitschten Hang. Nur wenige aus dem Clan machten sich je nach Westen auf, denn es gab dort keine Weiden, keinen Lagerplatz. Schon als Abu Yusuf noch ein Junge war – und noch nicht Abu Yusuf genannt wurde, sondern nur Jalal ibn Karim –, hatte
sich nach Westen aufmachen
im Clan bedeutet, zu Wahab Ibn Malik zu reiten. Eltern mit einem Kind, das schwerkrank war oder einen Exorzismus brauchte, machten sich nach Westen auf; unfruchtbare Frauen zogen mit ihren Männern nach Westen und wurden bald darauf schwanger. Aber Ibn Malik beanspruchte immer etwas als Gegenleistung, entweder von den Geheilten oder von denen, die sie gebracht hatten – nicht nur ein Schaf oder zwei, sondern etwas Immaterielles und Unersetzbares. Der Vater des geheilten Kindes sprach nie wieder ein Wort. Die schwangere Frau erblindete bei der Geburt. Niemand jammerte über den Verlust; die Schulden bei Ibn Malik waren hiermit beglichen worden, und jeder wusste es.
    Abu Yusufs Cousin Aziz hatte einst so eine Schuld bezahlt. Aziz war neun Jahre älter als der junge Jalal und groß, stark und gut aussehend. Alle Männer des Clans konnten reiten, als wären sie im Sattel geboren, aber Aziz ritt wie ein Gott, und dafür betete Jalal ihn an. Jalal hütete die Schafe seines Vaters, als Aziz’ Pferd in ein Loch stolperte

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