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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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erwartete, dass sie schreien oder sich übergeben würde, aber sie lag still und schweigend da. »Interessant«, sagte Ibn Malik und schnurrte dabei fast wie ein Katze.
    »Was ist es?«
    Der knochige Mann bedeutete ihm zu schweigen, absurderweise mit der gleichen Geste wie Fatim, und Abu Yusuf hätte am liebsten gelacht. Dieser Impuls erlosch, als Ibn Malik sich rittlings auf Fadwa setzte. Mit beiden Händen zog er ihre Lider zurück; seine schmutzigen Unterarme berührten ihre Schultern. Eine lange Weile starrten sie einander tief in die Augen. Keiner von beiden blinzelte, und beide schienen nicht mehr zu atmen. Abu Yusuf wandte sich ab, weil er nicht länger mitansehen wollte, wie Ibn Malik auf der Brust seiner Tochter saß wie ein groteskes Insekt. Der Rauch der Fackeln stieg ihm in die Nase und verklebte seine Lunge, ihm wurde schwindlig. Er lehnte sich gegen den rauen Stein und schloss die Augen.
    Nach einer Weile – er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war – hörte er eine Bewegung, wandte sich um und sah, wie Ibn Malik von seiner Tochter stieg. Der uralte Mann lächelte, seine Augen strahlten wie die eines aufgeregten Jungen.
    »Darauf habe ich mein ganzes Leben gewartet«, sagte Ibn Malik.
    »Kannst du sie heilen?«, fragte Abu Yusuf tonlos.
    »Ja, ja, kein Problem«, sagte der Mann ungeduldig, und Abu Yusuf gaben die Knie nach, und seine Augen füllten sich mit Tränen. »Aber nicht sofort. Nein, noch nicht. Hier geht es um mehr. Ich muss nachdenken. Wir brauchen einen Plan, eine Strategie.«
    »Eine Strategie
wofür

    Ibn Malik grinste. »Um den Dschinn zu fangen, der deiner Tochter das angetan hat.«

Kapitel  22
    Z wei Stunden, nachdem das Licht gelöscht worden war, erwachte der Mann, der unter dem Namen Joseph Schall bekannt war, im dunklen Schlafsaal des Wohnheims. Den ganzen Tag über war er vorbildlich fleißig gewesen, hatte Decken, Feldbetten, Seifen verteilt und in der von Kakerlaken heimgesuchten Küche Teller gespült. Beim abendlichen Antreten hatte er Namen auf der Liste abgehakt und die unvermeidlichen Streitereien geschlichtet, bevor er sich in sein Bett gelegt hatte und in einen tiefen erholsamen Schlaf gesunken war. Doch jetzt, als er sich leise anzog und seine Schuhe nahm, fiel die Rolle des Joseph Schall von ihm ab wie eine zweite Haut. Es war fast Mitternacht, und Yehudah Schaalmans Tag begann.
    Seit der Nacht, als ihm das Opium zu einer Erleuchtung verholfen hatte, war Schaalmans Suche von einer neuen Energie geprägt. Ihm war klar, dass er einen Fehler gemacht und sich seine Beute als etwas vorgestellt hatte, was versteckt war wie ein Schmuckstück in der Mitte eines Irrgartens. Aber ihm waren die Augen geöffnet worden. Was immer es war, es war
unterwegs.
Es war etwas, was man, wissentlich oder unwissentlich, mit sich tragen und weitergeben konnte.
    Als Erstes war er in die Bowery zurückgekehrt in der Hoffnung, die Spur dort wieder aufzunehmen. Eine Woche lang war er über die Dächer gegangen, eine weitere anonyme Seele unter vielen. Doch die Spuren, die sich so frisch angefühlt hatten, begannen zu verblassen. Sogar Conroy, der Hehler, hatte seine Anziehungskraft verloren; jetzt schien er kaum mehr interessant.
    Doch Schaalman ließ sich nicht beirren. Einmal hatte er durch schieren Zufall die Spur gefunden. Warum sollte das nicht noch einmal geschehen?
    Und so machte er sich erneut auf, ließ sich vom Zufall in unbekannte Viertel leiten, wo das Jiddische auf den Schildern immer seltener wurde. Diese Straßen waren nachts nahezu verlassen, es gab keine Menschenmenge, in der er untertauchen konnte, und Schaalman fühlte sich ungeschützt und war auf der Hut. Doch das Risiko lohnte sich: Bald zog ihn der Zauber nach Norden, vorbei an langen Häuserblocks mit Säulen, die die Eingänge flankierten, zu einem großen offenen Park, vor dem ein riesiger, beleuchteter Torbogen stand, dessen alabasterweiße Oberfläche verführerisch glühte. Seine Beute war erst vor kurzem hier gewesen.
    Fast eine Stunde betrachtete er den Torbogen und versuchte, hinter seine Bedeutung zu kommen. War er Teil eines Gebäudes gewesen oder das Tor zu einer verschwundenen Stadt? Ein unverständliches englisches Zitat befand sich auf einer Seite, doch Schaalman bezweifelte, dass es ihm Antworten liefern würde. Er riskierte es, ein paar Formeln zu sprechen, um das Unsichtbare sichtbar zu machen, doch es passierte nichts. Der Bogen ragte über ihm auf, ein unberechenbares Gewicht aus Marmor. Ein

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