Golem und Dschinn: Roman (German Edition)
Bibliothek öffnete.
Der Morgengottesdienst hatte bereits begonnen, als Michael Levy vor der alten Synagoge seines Onkels ankam. Er war durch die Lower East Side gewandert in dem Versuch, den Zusammenbruch seines Lebens zu begreifen, als er merkte, wohin sein Weg ihn führte. Der Gedanke, nach Hause zu gehen, war ihm unerträglich. Doch ins Wohnheim konnte er auch nicht zurück aus Angst, dass sie immer noch dort war. Er nahm an, dass er dankbar sein sollte, weil sie ihn gewarnt hatte, weil er mit dem Leben davongekommen war; aber im Augenblick war Dankbarkeit kein Gefühl, das er hätte empfinden können.
Die alte Synagoge seines Onkels war ursprünglich eine Methodistenkirche gewesen. Es war ein unauffälliger anonymer Bau aus grob behauenem grauem Stein, weder beeindruckend noch einladend, die Art Gebäude, die ein Dutzend Mal den Besitzer wechseln konnte, ohne dass die Nachbarn es merkten. Im Inneren scharten sich ein paar Dutzend Männer in den vorderen Reihen. Die meisten waren fast so alt wie sein Onkel. Michael blieb vor dem Allerheiligsten stehen, fühlte plötzlich Starrsinn in sich aufsteigen. Ihm graute davor, von den Freunden seines Onkels wiedererkannt zu werden. Sie würden Gott seinetwegen danken, ihn als Beweis anführen, dass man in schwierigen Zeiten immer zu seinem Glauben zurückfand.
Und lägen sie damit so falsch? Er hatte akzeptiert, dass seine Frau ein Wesen aus Lehm war, zum Leben erweckt von – was? Dem Willen Gottes? Musste er jetzt an Gott glauben, wenn diese Geschichte einen Sinn ergeben sollte? Bei dem Gedanken wurde er gereizt, als wäre er wieder ein Kind, das gegen seinen Willen in die Schule geschleift wird. Aber er konnte auch nicht vergessen, was er herausgefunden hatte.
Die Stimmen der Männer hoben und senkten sich.
Du hast mir meine Klage vewandelt in einen Reigen, du hast mir den Sack der Trauer ausgezogen und mich mit Freude gegürtet.
Sie sangen die Psalmen und Lobpreisungen, und wie früher passte sich sein Herzschlag ihrem Rhythmus an. Es erschien ihm unfair, dass die Gebete sich so auf ihn auswirkten, gegen seinen Willen; dass er über die Empfindungen spotten und trotzdem mitsingen konnte. Er stellte sich vor, er wäre neunzig, zahnlos und tatterig, unfähig sich an irgendetwas zu erinnern außer an die Morgengebete. Sie waren seine älteste Erinnerung, seine erste Musik.
Er wusste nicht genau, wann er aufgehört hatte zu glauben. Es war nicht von einem Tag auf den anderen passiert, ebenso wenig hatte er gegen den Glauben argumentiert, gleichgültig was sein Onkel gedacht hatte. Nein, er hatte einfach irgendwann festgestellt, dass Gott verschwunden war. Vielleicht hatte er auch nie wirklich geglaubt. Oder er hatte nur einen Glauben gegen einen anderen ausgetauscht, liebte vielleicht weder Gott noch den Atheismus, sondern die Ideologie um ihrer selbst willen – so wie er sich auch nicht in eine Frau, sondern in das Bild einer Frau verliebt hatte.
Chava Levy
, dachte er,
deine Existenz ist eine unumstößliche Tatsache, mit der schwer zu leben ist.
Plötzlich war seine Kehle zugeschnürt. Er unterdrückte ein Schluchzen und verließ die Synagoge. Er hörte den Gesang nicht mehr, aber in Gedanken nahm er den Faden auf, der ihn unwillkürlich durch den Rest des Gottesdienstes führte, während er zum Wohnheim zurückkehrte. Es war jetzt sein einziges Zuhause, und er nahm an, dass das Wohnheim, wenn er eine Religion hatte, ihr Tempel war, der nicht Göttern oder Ideen, sondern lebendigen, fehlbaren Menschen geweiht war. Wenn seine Frau da war, würde er sich ihr stellen.
Das Wohnheim erwachte gerade zum Leben, als er ankam. Im Flur roch es nach Kaffee; er konnte die alten Rohre in den Mauern klopfen hören. Er wappnete sich, doch sein Büro war leer, die Tür stand offen.
Er setzte sich an den Schreibtisch und dachte trotz allem daran, die normale Arbeit des Tages anzugehen, als er sah, dass Joseph Schalls Buch verschwunden war.
Das Buch.
In seinem nächtlichen Alkoholnebel hatte er es vergessen – ja, er hatte Joseph vergessen.
Hektisch suchte er seinen Schreibtisch ab. Die Notizen seines Onkels waren noch in der Schublade, in die er sie gestopft hatte, aber die versengten Seiten waren nirgendwo zu finden. War Joseph zurückgekehrt, von wo immer er gewesen war, und hatte es in seinem Büro gefunden? Oder hatte seine Frau es genommen? Wenn er das Buch nur finden und unter Josephs Pritsche legen könnte, sodass er nicht erfahren würde …
Ein Schatten fiel
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