Golem und Dschinn: Roman (German Edition)
sagte dann: »Geht es dir gut, Sophia?«
Erst jetzt bemerkte der Golem die blasse Haut und die viel zu warme Kleidung der jungen Frau, die dunklen Schatten unter ihren Augen. Sophia dachte kurz nach, und der Golem spürte ein wirres Knäuel aus Sehnsucht und Bedauern und vor allem den großen Wunsch, nicht bemitleidet zu werden.
»Ich war krank«, sagte Sophia. »Aber ich glaube, dass ich auf dem Weg der Besserung bin.« Sie lächelte. »Jetzt zieh dich bitte an. Ich komme in ein paar Minuten und hole euch.«
Sie ging, und Ahmad wandte sich den mitgebrachten Kleidern zu. Der Golem saß auf der Bettkante und wusste nicht, wohin sie blicken sollte – ihm beim Anziehen zuzuschauen, war irgendwie intimer, als ihn nackt zu sehen. Sie ging zur Frisierkommode der jungen Frau und betrachtete müßig die dort abgestellten Dinge: eine vergoldete Haarbürste, eine wunderschöne Kette aus Silber und Glas, ein Apothekersortiment an Fläschchen und Tiegeln. Auf einem Schmuckkästchen stand ein goldener Vogel in einem Käfig, seine Herkunft unverkennbar. »Ihr hast du auch einen gemacht«, sagte sie.
Ahmad knöpfte sein Hemd zu. »Höre ich da Eifersucht? Sie hat ihn mir zumindest nicht zurückgegeben.«
»Ich konnte ihn nicht behalten. Ich habe geheiratet«, sagte der Golem.
Beide schwiegen.
»Michael«, sagte Ahmad schließlich. »Ist er auch mit hineingezogen worden?«
Sie seufzte. »Da ist noch etwas, was ich dir nicht erzählt habe.« Und er hörte abwechselnd erschrocken und ernst zu, während sie erzählte, wie sie Michael mit Schaalmans Zaubersprüchen im Wohnheim angetroffen und sich anschließend verzweifelt Gedanken über ihre Verwendung gemacht hatte.
»Wo sind sie jetzt?«, fragte er.
»Anna hat die Papiere«, sagte sie, und er verzog das Gesicht. »Ich konnte sie nicht in der Bäckerei lassen! Sie versteckt sie irgendwo. Ich weiß nicht, was ich damit tun soll.«
»Verbrenn sie«, sagte er.
»Das ganze Wissen vernichten?«
»Es ist Schaalmans Wissen. Ibn Maliks.«
»Ich dachte«, murmelte sie, »dass ich dich damit vielleicht befreien könnte.«
Das traf ihn sichtlich wie ein Schlag. Er wandte sich ab und kämpfte mit sich. Dann blickte er auf sein Hemd hinunter und zog an den Ärmeln. »Sophias Vater hat sehr kurze Arme«, sagte er.
»Ahmad –«
»Nein. Du darfst dieses Wissen nicht benutzen. Entweder werde ich auf eine andere Weise befreit oder gar nicht. Versprich mir das.«
»Ich verspreche es«, sagte sie leise.
»Gut.« Er seufzte. »Und jetzt sag mir, ob ich mich dem Haushalt so präsentieren kann?«
Sie musterte ihn und lächelte: Sophias Vater war kleiner, aber dicker als der Dschinn, und die geliehenen Kleider bauschten sich um ihn wie Segel. »Präsentierbarer als zuvor.«
Er verzog das Gesicht. »Zumindest sind es keine alten Lumpen, wie Arbeely sie mir gegeben hat, als ich aus der Flasche gekommen bin.«
»Da warst du auch nackt? Ist das so eine Gewohnheit von dir?«
Doch er blickte blind an ihr vorbei. »Die Flasche«, sagte er.
»Was ist damit?«
»Maryam Faddoul hat sie noch. Arbeely hat sie repariert. Er hat das Siegel ersetzt genau so, wie es war.« Er hielt inne. Als er weitersprach, klang er angespannt. »Du hast recht, Chava, es gibt einen anderen Weg. Aber er wird dir nicht gefallen.«
Anna verließ die Bäckerei mit dem seltsamen Sack und fragte sich, was genau ihr da anvertraut worden war. Sie fühlte einen flachen, knisternden Stapel Papiere darin; was war darauf geschrieben? Geheimnisse? Ein belastendes Geständnis? Trotz ihres Versprechens hätte sie den Sack gern geöffnet und hineingeschaut – aber dann erinnerte sie sich daran, wer ihn ihr gegeben hatte, und an die Schrecknisse, die sie schon erlebt hatte. Es war bestimmt kein Tagebuch, in dem Liebesgeheimnisse festgehalten waren. Besser, nicht zu wissen, was es war. Sie musste sich schnell ein Versteck einfallen lassen, und die Sache wäre erledigt.
Letztlich entschied sie sich für das Tanzlokal in der Broome Street. Wegen Chava hatte sie sowieso daran gedacht – und sie war seit jenem entsetzlichen Abend nicht mehr dort gewesen und hatte auch nicht vorgehabt, je wieder hinzugehen. Doch als sie über ein anderes Versteck nachdachte, kam sie immer wieder darauf zurück. Sie wusste sogar, wo genau sie den Sack verstecken würde: im Hinterzimmer auf dem alten Wäscheschrank, in dem die Tischdecken aufbewahrt wurden. Sie musste nur Mendel finden und ihn überreden, ihr den Schlüssel zu geben. Soweit sie
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