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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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durch die offene Tür.
    »Merkwürdig«, sagte Joseph freundlich. »Ich selbst habe auch gerade etwas gesucht. Ich glaube, unter uns ist ein Dieb.« Er schaute zu Michael. »Aber vielleicht wussten Sie das schon.«
    Michael stand eiskalter Schweiß auf der Stirn. Joseph hatte ihn ertappt, und er war sich schmerzlich seines sichtbaren schlechten Gewissens und seiner Angst bewusst.
    »Ich verstehe«, sagte Joseph. Er schloss die Tür hinter sich, und sie fiel leise ins Schloss. Der Mann war so klein und mager wie immer, und doch schien er in dem kleinen Raum viel zu viel Platz einzunehmen. »Also. Wie gehen wir jetzt weiter vor, Sie und ich?«
    »Ich habe es nicht«, sagte Michael. »Es ist weg. Verschwunden.«
    Joseph zog eine Augenbraue in die Höhe. »Und haben Sie es gelesen, bevor es verschwunden ist?«
    »Ja.«
    »Aha. Aber haben Sie es auch verstanden?«
    »Zur Genüge.«
    Joseph nickte. »Urteilen Sie nicht zu hart über Ihre Frau«, sagte er. »Sie ist nur ihrer Natur gefolgt – so gut es ihr möglich war. Ein Golem ist verloren ohne seinen Meister.«
    »Ich wollte ihr Mann sein, nicht ihr Meister.«
    »Wie aufgeklärt von Ihnen«, sagte Joseph. Seine Stimme war tonlos, die gewohnte Freundlichkeit daraus verschwunden. »Also. Wo ist mein Buch?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Was vermuten Sie?«
    Michael schluckte und schwieg.
    Joseph seufzte. »Vielleicht verstehen Sie immer noch nicht. Ich war nur freundlich. Ich muss nicht fragen.«
    Absurderweise musste Michael lachen.
    Verärgert sagte Joseph: »Was ist denn so amüsant?«
    »Ich habe gerade begriffen, wer Sie tatsächlich sind.«
    »Und was schließen Sie daraus?«
    »Oh, gar nichts. Aber Sie haben ihnen wirklich geholfen, wissen Sie.«
    »Wem?«
    »All diesen Männern, die Sie kommen und gehen sehen haben. Sie haben ihnen geholfen, ihre Pritschen zu finden, haben ihnen Ratschläge gegeben und für sie aufgeräumt und geputzt. Sie waren ein freundliches Gesicht in einer fremden Stadt. Es muss für Sie die reinste Folter gewesen sein.«
    »Sie können es sich nicht vorstellen.«
    Michael lächelte. »Gut. Ich bin froh, dass es Ihnen wehgetan hat. Aber Sie tun mir leid, wirklich. All Ihre Macht scheint Sie nicht sehr weit gebracht zu haben.«
    Joseph hatte die Augen zu Schlitzen zusammengekniffen. Michael holte tief Luft und fuhr fort: »Eigentlich, wenn man darüber nachdenkt, diese Männer, denen Sie so widerwillig geholfen haben –, sie alle streben nach Höherem und Besserem. Sie sind der Einzige, der übrig bleibt.«
    »Erspar mir dein Mitleid«, sagte Joseph – stürzte sich auf Michael und packte ihn am Kopf.
    Schaalman ließ Michael bei Bewusstsein, als er sein Gedächtnis auseinandernahm. Er ging nach dem Zufallsprinzip vor, packte in seinem Zorn wahllos Momente, sodass Michael mit Erinnerungen bombardiert wurde, während er starb. Er spielte mit Freunden Baseball auf der Straße; er flüchtete einen Flur entlang, rannte um sein Leben. Seine Tante weinte, als er einen Brief von seinem Vater zerriss, den er nicht einmal gelesen hatte. Eine Krankenschwester drückte in Swinburne ihre kühle Hand auf seine Stirn. Er hatte die Schule geschwänzt, und jetzt legte ihn sein Onkel übers Knie, den ungeschickten Schlägen war anzumerken, wie unwohl er sich bei dieser Aufgabe fühlte. Er stand in einem Wohnzimmer und sah eine große Frau die Treppe herunterkommen, sein Herz schwer vor Freude und Schmerz.
    Schließlich hörte Joseph auf, und Michael fiel blind auf den Boden.
    Schaalman stand einen Augenblick da und dachte über das nach, was er aufgelesen hatte. Dann ging er zum Schreibtisch und zog eine Schublade auf. Dort lagen, wo Michael sie hineingestopft hatte, die Blätter mit den Notizen von Rabbi Meyer.
    Schaalman blätterte mit zunehmender Aufregung darin, verfolgte den mühseligen Fortschritt des Rabbis, seine Entdeckungen und Rückschläge. Endlich begriff er, warum Meyer seinen Kollegen die wertvollen Bände gestohlen hatte. Er hatte den Mann für seine Nemesis gehalten, während Meyer ihm tatsächlich ein kostbares Geschenk hinterlassen hatte. Er musste die raffinierten künstlerischen Fähigkeiten des Rabbis anerkennen, die so viel ruhiger und zweckmäßiger waren als seine eigenen fieberhaften Zaubersprüche. Dass die Formel das Einverständnis des Golems erforderte, war zum Beispiel etwas, was er selbst nie zustande gebracht hätte. Doch in Wahrheit wäre er auch nie auf den Gedanken gekommen.
    Es war eine merkwürdige Ironie, den Golem

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