Golem und Dschinn: Roman (German Edition)
für ein übergeordnetes Wohl? Sie würde freiwillig zu ihm gehen – und er würde sie nicht allein gehen lassen.
Er konnte seine Hände wieder bewegen. Er ließ sie sinken und wandte sich ab.
»Es ist zu spät«, sagte er tonlos. »Wir haben verloren.«
Salehs Eismaschine stand da, wo er sie hatte stehen lassen, in einer Ecke seines Kellerlochs. Er verzog das Gesicht, als er den Raum zum ersten Mal deutlich sah. Er hob die zusammengenähte Decke mit einem Zeh an und schauderte, als er daran dachte, welches Ungeziefer darin hausen mochte. Die Eismaschine war alles, was sich zu retten lohnte – wenn überhaupt, denn das Holz war gesplittert und die Kurbel hing an einer einzigen Schraube. Er glaubte, dass sie auseinanderfallen würde, sollte er sie jemals wieder benutzen.
Dennoch konnte er sie nicht zurücklassen, da sie ihm so treu gedient hatte, und deswegen schleppte er sie über die Treppe auf die Straße. Er wollte sie gerade in Ahmads Wohnung schaffen, um dort über seine Optionen nachzudenken, als er auf der anderen Straßenseite Chava und Ahmad vorbeihasten sah. Chava rannte beinahe, ihre Miene zeugte von gequälter Entschlossenheit; Ahmad folgte ihr und sah aus, als würde er alles auf der Welt geben, um sie aufzuhalten. Und Saleh dachte:
Da ist etwas ganz und gar schiefgegangen.
Es war nicht sein Kampf. Er kannte diese Menschen kaum, wenn es denn überhaupt Menschen waren. Er war ihnen definitiv zu nichts verpflichtet. Einen Tag lang war er in ihre Schwierigkeiten verwickelt gewesen, aber das war jetzt vorbei. War er ihnen nicht in mehr als genug Kalamitäten gefolgt? Er musste sich entscheiden, wohin er gehörte.
Saleh biss die Zähne zusammen und ließ die Eismaschine stehen.
Kapitel 29
D er Ballsaal in der Broome Street war tagsüber so schön wie abends, aber auf eine ganz andere Art: keine funkelnde, von Gaslampen erhellte Phantasie, sondern ein warmer, goldener Raum. Die hohen, vielfach unterteilten Fenster warfen sonnige Vierecke auf die Tanzfläche, Staub flimmerte in der Luft.
Keiner von beiden hatte auf dem Weg zum Tanzlokal ein Wort gesagt, gemeinsam ertrugen sie die Angst und das Gefühl der Ohnmacht. Schaalman konnte den Dschinn nach Lust und Laune kontrollieren, und der Golem war sein Geschöpf, das er jederzeit zerstören konnte. Er hielt ihrer beider Leben in den Händen; er konnte sie gegeneinander einsetzen oder den Dschinn in der Flasche einsperren und den Golem zu Staub verwandeln. Sie hatten die Wahl zwischen Sklavendiensten oder dem Tod.
Die Tür des Lokals war mit einem Vorhängeschloss zugesperrt, doch es fiel herunter, kaum hatte der Dschinn es berührt. Wieder einmal Schaalman, der seine Macht unter Beweis stellte. Sie wechselten einen grimmigen Blick und gingen hinein.
Die Tische waren an die Wände geschoben, in der Mitte der Tanzfläche stand Anna, geistesabwesend und mit leerem Blick.
»Anna«, sagte der Golem dringlich. Keine Antwort, sie spürte nichts. Sie machte ein paar Schritte auf Anna zu und schaute sich um. Der Dschinn blieb angespannt stehen. »Ich bin da«, rief der Golem.
Ein Schatten löste sich aus einer Ecke und wurde zu einem mageren alten Mann. »Hallo, mein Golem«, sagte Schaalman. »Freut mich, dich zu sehen.« Er blickte zum Dschinn. »Und du bist auch da. Sogar freiwillig. Du hast doch die Flasche dabei, oder?« Der Dschinn unterdrückte einen Schreckensschrei, als sich sein Körper von selbst in Bewegung setzte. Er hielt die Flasche vor sich und ging die halbe Strecke bis zu Schaalman. Dort stellte er die Flasche auf den Boden und kehrte zurück, während der Golem ihm entsetzt zuschaute.
»Hören Sie auf«, sagte sie. »Wir sind da, wir haben getan, was Sie wollten. Lassen Sie Anna gehen.«
»Golem, du überraschst mich«, sagte Schaalman. »Ich dachte, du würdest das Mädchen beneiden. Schau sie dir an, nur noch Tage bis zur Agonie der Niederkunft – aber in diesem Zustand hat sie keine Sorgen, keine Ängste, alles ist friedlich. Ist das nicht das bessere Leben?« Er betrachtete sie vom anderen Ende der Tanzfläche. »Du hattest nur so kurz einen Meister, aber du hast bestimmt nicht vergessen, wie es war. Sag, erinnerst du dich?«, fragte er sie in strengem Tonfall.
»Ja.«
»Und wie hast du dich gefühlt?«
Sie konnte nicht lügen, er kannte die Antwort. »Ich war glücklich.«
»Aber du willst Anna dieses Glück nehmen und ihr die Schmerzen zurückgeben.« Und als wäre er mit seiner Geduld am Ende, hörte er mit dem
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