Golem und Dschinn: Roman (German Edition)
Mildtätige Aktionskomitee. Zehn Minuten zuvor hatte ihn die Haushälterin informiert, dass etliche Bewohner in dieser Woche mit Durchfall eingetroffen waren und sie in beunruhigendem Maße Bettwäsche verbrauchten. Und wie immer spürte er nahezu physisch den Druck der fast zweihundert neuen Immigranten auf ihm lasten, die über ihm in den Schlafsälen einquartiert waren. Und solange sie sich unter seinem Dach aufhielten, war Michael für ihr Wohlergehen verantwortlich.
Das Jüdische Wohnheim war eine Durchgangsstation, in der frisch aus der Alten Welt eingetroffene Männer eine Pause einlegen und zur Besinnung kommen konnten, bevor sie sich kopfüber in den weit aufgerissenen Rachen der Neuen Welt stürzten. Sie durften fünf Tage im Wohnheim bleiben, wo sie verpflegt und eingekleidet wurden und auf Feldbetten schliefen. Danach mussten sie das Heim wieder verlassen. Manche zogen zu entfernten Verwandten oder wurden Hausierer; andere ließen sich von Fabriken anwerben und schliefen in schäbigen Absteigen für fünf Cent pro Nacht in Hängematten. Wenn möglich versuchte Michael die Männer von den schlimmsten Ausbeuterbetrieben fernzuhalten.
Michael Levy war siebenundzwanzig Jahre alt. Er hatte ein rosiges pausbäckiges Gesicht, das zu ewiger Jugend verdammt war. Nur seinen Augen waren die Jahre anzusehen; sie waren vom Lesen und vor Erschöpfung von Falten und dunklen Ringen umgeben. Er war größer als sein Onkel Avram und sah ein bisschen aus wie eine Vogelscheuche, weil er sich weder ausruhte noch die Zeit nahm, regelmäßig zu essen. Seine Freunde scherzten, dass er mit seinen tintenfleckigen Manschetten und müden Augen nicht wie ein Sozialarbeiter, sondern wie ein Gelehrter aussah. Er antwortete darauf, dass das seine Richtigkeit habe, da seine Arbeit besser bilde als jeder Schulunterricht.
In seiner Antwort klang sowohl Stolz als auch Abwehr. Seine Lehrer, die Tante und der Onkel, seine Freunde, sein nahezu abwesender Vater, sie alle hatten damit gerechnet, dass er an der Universität studieren würde. Und sie waren entsetzt und betroffen gewesen, als der junge Michael verkündete, dass er sich der Sozialarbeit und der Verbesserung der Lebensumstände seiner Mitmenschen widmen wollte.
»Alles gut und schön«, sagte ein Freund. »Wer hat sich nicht diesem Ziel verschrieben? Aber du bist ein kluger Kopf – benutz deine Intelligenz, um den Menschen zu helfen. Warum willst du deine Gaben brachliegen lassen?« Der Freund schrieb für eine Zeitung der Sozialistischen Arbeiterpartei. Jede Woche stand sein Name über einem bewegenden Lobgesang auf den Arbeiter, der mit einer Szene brüderlicher Solidarität endete – der er für gewöhnlich passenderweise genau einen Tag vor Redaktionsschluss beigewohnt hatte.
Michael war ein bisschen gekränkt, blieb jedoch eisern. Seine Freunde schrieben ihre Artikel, sie nahmen an Demonstrationen und Versammlungen teil, sie diskutierten bei Kaffee und Strudel über die Zukunft des Marxismus – doch Michael hörte aus ihren Reden eine luftige Leere heraus. Er warf seinen Freunden nicht vor, sich für einen leichteren Weg entschieden zu haben, aber ebenso wenig konnte er ihnen folgen. Er war eine zu ehrliche Haut; er hatte nie gelernt, sich selbst hinters Licht zu führen.
Der Einzige, der ihn verstand, war sein Onkel Avram. Aber in Michaels Leben hatte sich noch etwas verändert, und das konnte der Rabbi nicht gutheißen.
»Wo steht geschrieben, dass man seinem Glauben den Rücken kehren muss, um Gutes zu tun?«, hatte der Rabbi gefragt und entsetzt auf den entblößten Kopf seines Neffen gestarrt, auf die kurzen Koteletten, wo früher Schläfenlocken gewesen waren. »Wer hat dir das beigebracht? Diese Philosophen, die du liest?«
»Ja, und ich bin ihrer Meinung. Vielleicht nicht mit allem, aber zumindest damit, dass wir unseren Platz in der modernen Welt nie finden werden, solange wir an unserem alten Glauben festhalten.«
Sein Onkel lachte. »Natürlich, diese wunderbare moderne Welt, die uns von allen Übeln befreit hat, von Armut und Verderbtheit! Was sind wir doch für Dummköpfe, wenn wir unsere Fesseln nicht abwerfen!«
»Selbstverständlich muss noch viel verändert werden! Aber es hat keinen Sinn, uns an eine rückständige –« Er unterbrach sich. Das Wort war ihm herausgerutscht.
Die Miene seines Onkels wurde noch düsterer. Michael wusste, dass er entweder widerrufen und sich entschuldigen oder zu dem stehen musste, was er gesagt hatte.
»Es tut
Weitere Kostenlose Bücher