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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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seinen unbedeckten Kopf gewöhnt, an das Fehlen der Fransen unter dem Hemd; aber in Gegenwart seines Onkels fühlte er sich noch immer nackt. Dann fiel sein Blick auf die Frau im Schatten der Tür.
    »Ich möchte dir eine neue Freundin vorstellen«, sagte der Rabbi. »Michael, das ist Chava. Sie ist vor kurzem aus Polen gekommen.«
    »Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte die Frau. Sie war groß, vielleicht drei Zentimeter größer als er. Einen Augenblick lang wirkte sie wie eine hoch aufragende dunkle Statue; doch dann betrat sie den Raum und war nur noch eine Frau in einem schlichten grauen Kleid, die eine Schachtel in den Händen hielt.
    Michael merkte, dass er sie anstarrte; er riss sich zusammen. »Ebenfalls! Wie lange sind Sie schon in New York?«
    »Erst einen Monat.« Sie lächelte verlegen, als wollte sie sich dafür entschuldigen.
    »Chavas Mann ist auf der Überfahrt gestorben«, sagte sein Onkel. »Sie hat keine Familie in Amerika. Ich bin so etwas wie ihr Betreuer.«
    Michael schaute sie ernst an. »Mein Gott, wie schrecklich. Das tut mir leid.«
    »Danke«, flüsterte sie.
    Nach einem kurzen verlegenen Schweigen schien sich die Frau an die Schachtel in ihren Händen zu erinnern. »Die habe ich gemacht«, sagte sie ein wenig abrupt. »Sie sollten für Ihren Onkel sein, aber es sind zu viele. Er hat vorgeschlagen, dass ich sie Ihnen bringe für die Männer, die hier wohnen.« Sie hielt Michael die Schachtel hin.
    Er öffnete sie, und ein himmlischer Duft nach Butter und Gewürzen stieg ihm in die Nase. Die Schachtel war voll verschiedener Sorten Gebäck: Butterhörnchen, Mandelmakronen, Gewürzplätzchen, Rosinenbrötchen, Ingwerwaffeln. »Sie haben die
alle
gebacken?«, fragte er ungläubig. »Sind Sie Bäckerin?«
    Die Frau zögerte, und dann lächelte sie. »Ja, vermutlich.«
    »Da werden sich die Männer bestimmt freuen. Wir werden dafür sorgen, dass jeder etwas abbekommt.« Er schloss die Schachtel und kämpfte gegen die Versuchung an. Vor allem die Mandelmakronen ließen ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen; seit seiner Kindheit waren sie seine Lieblingsplätzchen. »Danke, Chava. Das sind großartige Leckerbissen. Ich bringe sie gleich in die Küche.«
    »Sie sollten eine Makrone probieren«, bat sie ihn.
    Er lächelte. »Das werde ich. Die mag ich am liebsten.«
    »Ich –« Sie schien zu überlegen, dann sagte sie: »Da bin ich froh.«
    »Chava«, sagte der Rabbi, »vielleicht möchten Sie im Aufenthaltsraum auf mich warten.«
    Die Frau nickte. »Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen«, sagte sie zu Michael.
    »Mich auch«, erwiderte er. »Und wirklich vielen Dank. Im Namen aller Männer.«
    Die Frau lächelte und ging hinaus auf den Flur. Für eine so große Frau bewegte sie sich erstaunlich leise.
    »Mein Gott, wie tragisch!«, sagte Michael, als sie außer Hörweite war. »Ich bin überrascht, dass sie in New York geblieben ist, statt wieder nach Hause zu fahren.«
    »Dort wartet niemand auf sie«, sagte sein Onkel. »In gewisser Weise hatte sie gar keine Wahl.«
    Michael runzelte die Stirn. »Sie wohnt doch nicht etwa bei
dir

    »Nein, nein«, entgegnete sein Onkel rasch. »Sie wohnt im Moment bei einem früheren Gemeindemitglied. Einer alten Witwe. Aber ich muss ihr etwas Dauerhaftes zum Wohnen suchen und auch eine Arbeit.«
    »Das sollte nicht schwer sein. Sie scheint tüchtig zu sein, wenn auch etwas still.«
    »Ja, sie ist sehr tüchtig. Aber gleichzeitig ist sie allzu naiv. Ich habe Angst um sie. Sie muss lernen, sich selbst zu beschützen, um in dieser Stadt leben zu können.«
    »Du zumindest passt ja auf sie auf.«
    Sein Onkel lächelte grimmig. »Ja. Im Augenblick.«
    Eine Idee hatte sich in Michaels Kopf geschlichen; endlich wurde er auf sie aufmerksam. »Du sagst, du suchst Arbeit für sie?«
    »Ja. Aber wenn möglich nicht in einer Fabrik.«
    »Hast du noch Kontakt zu Moe Radzin?«
    »Wenn wir uns auf der Straße begegnen, grüßen wir uns.« Er runzelte die Stirn. »Meinst du, dass Moe Radzin eine Stelle für Chava hätte?«
    »Ich war gestern dort. Es war das reine Chaos, und Moe war außer sich. Eine seiner Hilfen ist davongelaufen, Gott weiß wohin, und eine andere hört auf, um sich um ihre Schwester zu kümmern.« Er lächelte und deutete auf die Schachtel. »Wenn die so gut schmecken, wie sie aussehen, dann können sie sie in der Bäckerei bestimmt gebrauchen. Du solltest mit ihm reden.«
    »Ja«, sagte der Rabbi bedächtig. »Das wäre eine Möglichkeit. Aber

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