Golem und Dschinn: Roman (German Edition)
mir leid, Onkel, aber so denke ich nun mal«, sagte er. »Ich schaue mir an, was wir Glauben nennen, und sehe nichts als Aberglauben und Knechtschaft. In
allen
Religionen, nicht nur im Judaismus. Sie spalten die Menschen und machen uns zu Sklaven von Phantasien, wenn wir uns doch auf das Hier und Jetzt konzentrieren müssen.«
Die Miene seines Onkels war versteinert. »Du hältst mich für ein Instrument der Knechtschaft.«
Instinktiv wollte er widersprechen –
natürlich nicht! Du doch nicht, Onkel!
–, aber er hielt sich zurück. Er wollte nicht auch noch Scheinheiligkeit auf die Liste seiner Vergehen setzen.
»Ja«, sagte er. »Ich wünschte, es wäre anders. Ich weiß, wie viel Gutes du getan hast – wie könnte ich die vielen Krankenbesuche vergessen? Und als der Laden der Rosens abbrannte? Aber gute Taten sollten aus unserem natürlichen Instinkt zur Brüderlichkeit erfolgen, nicht aus Stammesdenken! Was ist mit den Italienern, denen die Metzgerei neben dem Laden der Rosens gehörte? Was haben wir für
sie
getan?«
»Ich kann mich nicht um alle kümmern!«, fuhr der Rabbi ihn an. »Vielleicht habe ich mich schuldig gemacht, weil ich mich nur um die meinen gesorgt habe. Auch das ist ein natürlicher Instinkt, was immer deine Philosophen sagen.«
»Aber den müssen wir überwinden! Warum die Unterschiede verstärken und uns an uralte Gesetze halten und nie unsere Nachbarn an unseren Tisch bitten?«
»Weil wir Juden sind!«, brüllte sein Onkel. »Und weil wir so leben! Unsere Gesetze erinnern uns daran, wer wir sind, und sie geben uns Kraft! Und du, der du unbedingt deine Vergangenheit abwerfen willst – was willst du an ihre Stelle setzen? Womit willst du das Böse im Menschen davon abhalten, die Oberhand über das Gute zu gewinnen?«
»Mit Gesetzen, die für alle gelten«, sagte Michael. »Vor denen alle Menschen gleich sind. Ich bin kein Anarchist, Onkel, falls du das befürchtest.«
»Aber ein Atheist? Bist du
das
?«
Er sah keinen Weg, der daran vorbeiführte. »Ja, ich glaube, das bin ich«, sagte er und blickte weg, um den Schmerz in den Augen seines Onkels nicht sehen zu müssen. Noch lange hatte Michael das unglückliche Gefühl, dass er seinem Onkel genauso gut ins Gesicht hätte schlagen können.
Die Versöhnung zog sich lange hin. Auch jetzt noch, Jahre später, sahen sie sich nur ungefähr einmal im Monat. Sie plauderten herzlich über Nichtigkeiten und vermieden schmerzhafte Themen. Der Rabbi gratulierte Michael zu jedem Erfolg und sprach tröstliche Worte, wenn er eine Niederlage erlitten hatte – was oft der Fall war, denn Michaels Arbeit war alles andere als einfach. Als der frühere Leiter des Wohnheims aufhörte, hätte das Wohnheim wegen Geldmangels kurz darauf schließen müssen, denn der Mann hatte darauf bestanden, Geld nur von jüdisch-sozialistischen Gruppen anzunehmen. Michael wurde der Posten angeboten, und er schaute sich die Schlafsäle mit den vielen Dutzend Männern an. Ihre Kleidung, der Schnitt ihrer Bärte und ihre leicht verwirrten Mienen verrieten, dass sie gerade erst angekommen waren. Sie waren die verletzlichsten Einwanderer, die am leichtesten zu betrügen und beschwindeln waren. Er studierte die Buchhaltung des Hauses, die sich in einem chaotischen Zustand befand. Er nahm die Stelle an, schluckte seinen Stolz hinunter und ging zu den örtlichen jüdischen Gemeinden und Räten und bat um Geld. Als Gegenleistung hängte er an das schwarze Brett im Flur neben die Ankündigungen von Parteitreffen Anzeigen für die Sabbatgottesdienste.
Was er seinem Onkel gesagt hatte, glaubte er noch immer. Er ging nicht in die Synagoge, betete nicht und hoffte, dass alle Menschen eines Tages ihr Bedürfnis nach Religion verlören. Aber er wusste, dass sich tiefgreifende Veränderungen nur langsam vollzogen, und er kannte den Wert des Pragmatismus.
Wenn er Michael besuchte, sah der Rabbi die religiösen Ankündigungen, sagte jedoch nichts dazu. Auch er schien ihr Zerwürfnis zu bedauern. Sie hatten beide praktisch keine andere Familie – Michaels Vater hatte sich vor langem nach Cincinnati davongemacht und ein Dutzend frustrierter Gläubiger hinterlassen –, und in einem Viertel, in dem überwiegend Großfamilien wohnten, spürte Michael das deutlich. Und als der Rabbi an diesem Nachmittag an Michaels Bürotür klopfte, freute sich Michael aufrichtig, ihn zu sehen.
»Onkel! Was führt dich her?« Die Männer umarmten sich ein wenig steif. Michael hatte sich an
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