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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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Hauseingang stellen und warten können, bis der Regen aufhörte. Aber mehr als alles andere wollte er laufen. Er beschloss, dass er laufen würde, bis er die Washington Street erreichte oder bis ihn die Kraft verließ, was immer zuerst passierte.
    Nachdem Sophia ihn verlassen hatte, hatte er eine Weile auf ihrem Balkon gestanden und in den Garten geschaut. Er empfand einen Frieden, der zu zerbrechlich war, um darüber nachzudenken. Im Moment genügte es, dass er lebte, obwohl er in seiner Gestalt gefangen war.
    Der Lärm des Festes drang aus dem Ballsaal im Erdgeschoss zu ihm herauf. An einem anderen Abend wäre er versucht gewesen, das opulente Herrenhaus zu erkunden, während sich seine Bewohner in anderen Räumen aufhielten; doch er spürte, dass er sein Glück an diesem Abend schon genug herausgefordert hatte. Einem Impuls folgend holte er den goldenen Vogelkäfig aus der Tasche und stellte ihn auf die Brüstung, wo Sophia ihn gewiss finden würde. Warum nicht? Er hing nicht daran, und es war ein würdiges Geschenk auch für eine Tochter aus reichem Haus. Dann kletterte er auf demselben Weg hinunter, auf dem er hinaufgeklettert war, trat auf die Straße und wandte sich nach Süden. Als er zur Hochbahn kam, musste er feststellen, dass sie ihren Dienst für die Nacht bereits eingestellt hatte. Er würde den Rückweg zu Fuß zurücklegen müssen.
    Egal. Er war gut gelaunt, und das Gehen würde ihn nicht ermüden.
    Der Regen setzte ein, als er die Madison Avenue nach Süden marschierte. Anfänglich fühlte er sich kräftigend an und ganz anders als die fürchterliche Vorstellung von einem kompletten Eintauchen in Wasser. Doch dann regnete es heftiger, und jeder Tropfen traf ihn wie ein kleiner Schlag, und ihm wurde klar, dass er die Entfernung zur Washington Street unterschätzt hatte. Er schritt schneller aus und begann schließlich zu laufen; und bald lief er durch den Regen mit einer Miene, die sowohl Vergnügen als auch Schmerz hätte ausdrücken können. Wo der Regen auf seine nackte Haut traf, zischte es leise. Wenn die unglücklichen Obdachlosen und Polizisten, die noch draußen waren, sich die Zeit genommen und genau hingeschaut hätten, hätten sie einen Mann gesehen, der schnell und lautlos lief und kleine Dampfwölkchen hinter sich her zog.
    Schneller und schneller rannte er, kurz nach Westen und dann wieder nach Süden. Allmählich schlich sich eine Schwäche ein, eine köstliche Trägheit, die ihm zuflüsterte, sich auf die Straße zu legen und sich dem Regen auszuliefern. Doch er kämpfte dagegen an und rannte weiter, dachte an Arbeelys Werkstatt und die immer heiße Esse.
    Endlich fand er die Washington Street und raste an dem leeren Marktplatz an der Fulton vorbei. Der Regen ließ nicht nach. Er begann zu taumeln und wäre einmal beinahe gestürzt, aber er fing sich wieder. Mit letzter Kraft lief er die verbliebenen Blocks zu Arbeelys Werkstatt entlang.
     
    Sam und Lulus Feier war längst zu Ende. Die Tische waren abgeräumt, und in Faddouls Kaffeehaus herrschte wieder die gewohnte angenehme Ordnung. Arbeely war in seine Schmiede zurückgekehrt und arbeitete, um sich von seiner Sorge um den verschwundenen Dschinn abzulenken. Er kam sich ein wenig lächerlich vor, wie eine alte Glucke. Aber als der Nachmittag in den Abend überging, wurde aus seiner Unruhe Verdruss, dann Zorn und schließlich, als es zu regnen begann, unverhohlene Angst. Er redete sich ein, dass der Dschinn, wo immer er war, nicht so dumm wäre, sich dem Regen auszusetzen.
    Die Tür zur Werkstatt flog krachend auf. Der Dschinn stolperte über die Schwelle und die wenigen Stufen hinunter und landete bäuchlings auf dem Boden.
    »Mein Gott!« Arbeely lief zu ihm. Der Dschinn lag reglos da. Von seiner Kleidung stiegen Dampfwölkchen auf. Arbeely packte ihn panisch an den Schultern und drehte ihn auf den Rücken.
    Der Dschinn öffnete die Augen und grinste seinen Arbeitgeber schwach an. »Hallo, Arbeely«, krächzte er. »Ich hatte einen wunderbaren Abend.«

Kapitel  8
    A nfang Oktober verabschiedete sich das Sommerwetter endgültig. Das Laub im Central Park verfärbte sich von einem Tag auf den anderen, bevor es abfiel, von Gärtnern zu nassen Haufen gerecht und weggebracht wurde. Aus einem grauen Himmel fiel unablässig kalter Nieselregen.
    Die geschäftige Kreuzung von Allen und Delancey Street, wo Radzins Bäckerei stand, war ein bewegliches Muster aus Grau- und Brauntönen. Fußgänger mit Schultertüchern und in Mänteln

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