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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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gleichzeitig zu sein, seine Lippen waren heiß auf ihrer Haut, als er sie wieder und wieder in den Nacken und die Mulde an ihrem Hals küsste. Je erregter sie wurde, desto ängstlicher dachte sie daran, diesen Augenblick zu verlieren, zu ihrem Leben zurückkehren und die Folgen erdulden zu müssen; und als schließlich Sterne hinter ihren Augenlidern explodierten und ihr gesamter Körper in Flammen stand, vergrub sie vor abgrundtiefer Traurigkeit und Freude ihren Kopf an seiner Schulter und unterdrückte einen Schrei.
    Schließlich konnte sie wieder auf ihren eigenen Beinen stehen. Sie spürte seine zärtlichen Finger in ihrem Haar, seine Lippen auf ihrer Stirn. Sie konnte nicht zu ihm aufschauen. Tränen standen ihr in den Augen. Wenn sie sich nicht rührte, wenn sie vollkommen stillhielt, könnte sie vielleicht verhindern, dass die Zeit voranschritt …
    Wieder wurde an ihre Schlafzimmertür geklopft.
    »Ich muss gehen«, flüsterte sie, befreite sich von ihm und flüchtete.
     
    Am nächsten Tag erklärten die Gesellschaftsspalten der Zeitungen die Soiree der Winstons zu einem denkwürdigen Triumph. Und in der Tat war es einer dieser seltenen Abende gewesen, an denen dank einer zufälligen Kombination von Gästen, Wein und Geplauder echte Lebhaftigkeit aufkam und es unvorstellbar war, dass ein anderes Haus in der Stadt ebenso von Frohsinn und Wohlgefühl erfüllt sein könnte. Doch die wahre Überraschung des Abends war der umwerfende Auftritt der Tochter des Hauses. Bislang war die allgemeine Meinung gewesen, dass Sophia Winston zwar sehr hübsch war, sich jedoch kein bisschen bemühte. Ihre verträumte, distanzierte Haltung, der Mangel an einem engen Freundeskreis wurden als Snobismus aufgefasst. Viele der gleichaltrigen Mädchen kamen aus wohlhabenden Familien, doch aus Erbschafts- oder Geschäftsgründen war ihre Zukunft nicht so abgesichert wie Sophias. Und deswegen nahmen sie ihr ihr offensichtliches Desinteresse am Spiel der romantischen Kalkulationen übel, das zu spielen sie selbst gezwungen waren.
    Aber an diesem Abend wirkte Sophia Winston vor den Augen der Besten der Stadt wie verwandelt. Sie erschien spät, schritt vor Hunderten von Gästen die große Treppe herunter. Ihre Wangen waren gerötet und komplementierten wunderbar ihr eng anliegendes burgunderrotes Kleid. Und obwohl ihre desinteressierte Miene nicht vollkommen verschwunden war, wirkte sie jetzt auf vorteilhafte Weise zerstreut, als würde sie auf jemanden warten, der jeden Augenblick auftauchen könnte. Zahlreiche junge Männer nahmen sie zum ersten Mal richtig wahr und freundeten sich mit dem Gedanken an, dass es gar nicht so schrecklich wäre, wegen des Geldes zu heiraten. Sophias Mutter sah ihnen diese Überlegungen an, und hätte nicht erfreuter sein können.
    Sophia selbst verbrachte den Abend hin und her gerissen zwischen Aufregung, Schuldgefühlen und wachsender Ungläubigkeit über das, was sie hatte geschehen lassen. Alles hätte nur ein Traum sein können, würde sich ihr Körper nicht hartnäckig erinnern. Wenn sie daran dachte, wurde sie benommen und panisch, deswegen schob sie den Gedanken in die hinterste Ecke ihres Kopfes. Doch mitten in einer Unterhaltung drängte er sich wieder in den Vordergrund, ließ sie erröten und stammeln und den nächsten jungen Mann bitten, ihr ein Eis zu holen.
    Am Ende des Abends war sie erschöpft. Sie stand pflichtbewusst neben ihren Eltern, als sich die letzten Gäste in die Nacht aufmachten, und zog sich dann in ihr Zimmer zurück. Sie rechnete nicht damit, dass er noch da wäre, aber sie war überaus nervös, als sie ihr Schlafzimmer betrat.
    Der Balkon war dunkel und leer. Der Regen, der sich den ganzen Tag lang angekündigt hatte, fiel endlich in einem steten Plätschern in den Garten.
    Auf der Brüstung glänzte etwas. Auf dem polierten Granit schlief eine winzige goldene Taube in einem filigranen Käfig.

    Der Regen verwandelte die Stadt. Er wusch den Schmutz von den Gehwegen, und das Licht der Gaslampen spiegelte sich in Pfützen aus sauberem Wasser. Er trommelte auf die fest gespannten Markisen und strömte aus Regenrinnen und von Überständen auf die nahezu menschenleeren Straßen. Es war lange nach Mitternacht, und selbst die, die kein Zuhause hatten, waren in Kellereingängen oder dunklen Treppenhäusern untergeschlüpft.
    Der Dschinn lief allein durch die Straßen von New York.
    Er musste sich dieser Gefahr nicht aussetzen, sondern hätte sich jeden Augenblick in einen

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