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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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für einen feinen Herrn aus Uptown, der verkleidet durch die Armenviertel zog, was bisweilen vorkam; doch wenn er sie ansprach, was nur selten der Fall war, dann mit einem Akzent, der von dem eines New Yorker Dandys weit entfernt war. Jemand meinte, dass er vielleicht ein Edelgigolo war, aber warum sollte er dann wie eine billige Hure durch die Straßen schleichen? Ihre Spekulationen führten zu keinem Ergebnis, er war einfach ein komischer Kauz. Einer nannte ihn Sultan, und der Spitzname blieb an ihm hängen.
    Wenn es regnete, saß der Dschinn in seiner Wohnung und übte seine Kunstschmiedefertigkeiten. Er suchte regelmäßig den Laden in der Bowery auf, wo er Gold und Silber kaufte, das er zu allen möglichen kleinen Vögeln verarbeitete. Er machte einen Falken mit ausgebreiteten Flügeln, modellierte ihn von unten nach oben, um das Gewicht gleichmäßig zu verteilen. Er formte einen Pfau aus Silber und vergoldete seine Schwanzfedern, indem er das geschmolzene Gold mit einem Reisigstöckchen aus Arbeelys Besen auf das erkaltete Silber auftrug. Bald hatte er ein halbes Dutzend Vögel in unterschiedlichen Stadien der Vollendung angesammelt.
    Der Monat zog sich in die Länge, und es regnete fast jeden Abend. Der Dschinn, der Vögel mittlerweile überdrüssig geworden, arbeitete bald die ganze Nacht in der Schmiede oder tigerte in seinem Zimmer auf und ab und wartete auf den Sonnenaufgang. Warum, so fragte er sich, war er aus der Flasche entkommen, wenn er jetzt in einem anderen Käfig saß?
    An einem Abend Anfang November hörte es endlich auf zu regnen, der Himmel klärte sich, und ein paar müde Sterne hingen über den Gaslampen. Der Dschinn marschierte erleichtert durch die Straßen. Er ging planlos Richtung Norden und Osten und genoss die kühle Luft auf seinem Gesicht. Die ruhelosen Nächte in seiner Wohnung oder in der Schmiede hatten ihn einsam gemacht; und so näherte er sich jetzt, ohne es geplant zu haben, dem Anwesen der Winstons.
    Die Hochbahn fuhr noch. Der Dschinn kaufte sich eine Fahrkarte und wartete auf den Zug; als er einfuhr, stieg er jedoch nicht in einen Wagen, sondern sprang auf die Eisenplattform über der Kupplung zwischen zwei Wagen. Er spannte sich an und hielt sich fest, als sich der Zug langsam in Bewegung setzte. Es war eine wilde, schwindelerregende Fahrt. Der Lärm war ohrenbetäubend, ein Rattern und Kreischen, das seinen ganzen Körper durchdrang. Funken flogen an ihm vorbei, fortgetrieben vom heftigen Fahrtwind. Erleuchtete Fenster blitzten als helle, in die Länge gezogene Vierecke auf. An der 59 th Street sprang er zitternd ab.
    Es war jetzt nach Mitternacht, und die vornehme Fifth Avenue war nahezu menschenleer. Er gelangte zum Anwesen der Winstons und stellte fest, dass das Loch, das er in den Zaun geschmolzen hatte, wieder geschlossen war. Er fragte sich, was sie davon gehalten hatten, und lächelte, als er sich ihre Verwirrung vorstellte.
    Er entfernte noch einmal dieselben Gitterstäbe und betrat den Garten. Es war dunkel und still hier, hinter den Fenstern in den oberen Stockwerken brannte kein Licht. Auf Sophias Balkon zu klettern war jetzt noch einfacher, da er den Weg wusste. Nach ein paar Minuten stand er auf ihrem Balkon und spähte durch das geschliffene Glas.
    Sophia lag im Bett und schlief. Er sah, wie sich ihre Brust hob und senkte unter den Decken, die sie gegen die nächtliche Kühle über sich gezogen hatte. Er legte die Hand auf die Klinke. Zu seiner Überraschung öffnete sich die Tür. Sie hatte sie offen gelassen – nur einen Spaltbreit, aber offen.
    Die Angeln waren geölt und gaben keinen Laut von sich. Langsam schob er die Tür so weit auf, dass er eintreten konnte, und schloss sie von innen. Seine Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit des Zimmers. Sophia wandte ihm das Gesicht zu, ihr Haar lag zerzaust auf dem Kissen. Bei dem Gedanken, sie zu wecken, hatte er überraschenderweise ein schlechtes Gewissen.
    Nachdem er so lange Zeit in seiner kleinen Wohnung verbracht hatte, kam ihm ihr Zimmer erschreckend groß und opulent eingerichtet vor. Die Wände waren mit einem feinen taubengrauen Stoff bezogen. Ein riesiger verschnörkelter Kleiderschrank nahm fast eine ganze Wand ein. Auf einem Tisch mit marmorner Platte neben dem Bett standen eine Waschschüssel und ein Wasserkrug aus Porzellan. Unter seinen Füßen befand sich ein weißer Teppich aus dem Fell von einem großen Tier. Er erschrak über eine nahe Bewegung – aber es war sein eigenes, in einem

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