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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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länger; und eines Tages, während Arbeely die Einnahmen und Ausgaben des Oktobers in seine Bücher eintrug, musste er mit großem Schrecken feststellen, dass er nicht länger arm war.
    »Da«, sagte er und gab dem Dschinn ein paar Geldscheine. »Die sind für dich.«
    Der Dschinn starrte auf das Papier in seiner Hand. »Aber das ist mehr als wir vereinbart haben.«
    »Nimm es. Du hast genauso einen Anteil am Erfolg wie ich.«
    »Aber was soll ich damit machen?«, fragte der Dschinn verblüfft.
    »Es ist längst Zeit, dass du dir eine eigene Wohnung suchst. Nichts zu Protziges – keinen Glaspalast, wenn ich bitten darf.«
    Der Dschinn befolgte Arbeelys Rat und mietete ein Zimmer in einem nahen Wohnblock. Es war größer als Arbeelys Wohnung – wenn auch nicht viel – und befand sich im obersten Stock, sodass er zumindest über die Dächer schauen konnte. Er richtete das Zimmer mit einem niedrigen Diwan und ein paar großen Kissen ein, die er auf dem Boden verstreute. An die Wände hängte er zahllose kleine Spiegel und Kerzenhalter, sodass das Kerzenlicht nachts von Wand zu Wand reflektiert wurde und das Zimmer größer wirkte, als es war. Aber er konnte sich nicht wirklich hinters Licht führen; auch wenn sich seine Augen täuschen ließen, spürte er die Enge des Zimmers wie ein Jucken auf der Haut.
    Er verbrachte jetzt öfter seine Abende damit, die Straßen zu erkunden. Wenn er sich auf der Straße zu eingeengt fühlte, spazierte er über die Dächer, die wie eine eigene Stadt waren. Männer scharten sich um Tonnen, in denen Feuer brannten, rauchten Zigaretten und tranken Whiskey. Meist mied er ihre Gesellschaft und nickte nur, wenn sie ihn grüßten; aber eines Abends gewann seine Neugier die Oberhand, er vergaß seine Zurückhaltung und fragte einen irischen Arbeiter, ob er an seiner Zigarette ziehen dürfe. Der Mann zuckte die Achseln und gab sie ihm. Der Dschinn steckte sich die Zigarette in den Mund und inhalierte einen Schwall Luft. Die Zigarette verwandelte sich in Asche. Die Männer glotzten und brachen dann in Lachen aus. Der Ire rollte eine neue Zigarette und bat den Dschinn, den Trick noch einmal vorzuführen; aber der Dschinn zuckte nur die Schultern und inhalierte weniger heftig, und die neue Zigarette brannte wie die der anderen Männer. Alle waren einhellig der Meinung, dass mit der ersten Zigarette irgendwas nicht gestimmt hatte.
    Danach hatte der Dschinn meistens Tabak und Zigarettenpapier dabei. Der Tabak schmeckte ihm, und die Wärme des Rauchs in seinem Körper gefiel ihm. Aber zur Verwunderung aller, die ihn auf der Straße anhielten und um Feuer baten, hatte er nie Zündhölzer dabei.
    Eines Abends kehrte er in den Park von Castle Garden zurück, wo er am ersten Nachmittag mit Arbeely am Geländer gestanden hatte, und entdeckte das Aquarium. Es war ein Ort wie nicht von dieser Welt, der ihn sowohl faszinierte als auch nervös machte. Nachdem er das Vorhängeschloss vom Schließband abgeschmolzen hatte, stand er stundenlang vor den riesigen Wasserbecken und starrte die langen dunklen Geschöpfe an, die darin vorüberglitten. Nie zuvor hatte er Fische gesehen, und er schlenderte von Becken zu Becken, verzaubert von der Mannigfaltigkeit – der eine Fisch lang und grau und mit schmalen Flossen, der andere platt wie eine Münze und farbenprächtig gestreift. Er betrachtete die Kiemen und versuchte, ihren Zweck zu erraten. Er legte die Hand auf das glatte Glas und spürte das Gewicht des Wassers dahinter. Wenn er das Glas so lange erhitzte, dass es zerbarst, würde ihn das Wasser augenblicklich töten; ein Schauder durchfuhr ihn, wie ihn ein Mensch empfinden mochte, der am Rand einer hohen Klippe steht und versucht ist zu springen. Eine Woche lang kam er jede Nacht wieder, bis eine Wache vor dem Aquarium aufgestellt wurde. Der merkwürdige Einbrecher schien zwar nichts zu stehlen, aber man hatte es satt, jeden Tag ein neues Schloss anbringen zu müssen.
    Er wurde zu einer vertrauten Erscheinung für die Nachtschwärmer des südlichen Manhattans: ein großer, gut aussehender Mann, der weder Hut noch Mantel trug und seine Umgebung mit einer distanzierten, amüsierten Miene betrachtete wie ein Würdenträger auf Besuch. Insbesondere den Polizisten war er ein Rätsel. Ihrer Erfahrung nach war ein Mann, der nachts durch die Straßen streift, auf der Suche nach Alkohol, Streit oder einer Frau, aber für diese drei Dinge schien er sich überhaupt nicht zu interessieren. Vielleicht hielten sie ihn

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