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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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dreiteiligen Spiegel reflektiertes Bild. Der Spiegel befand sich auf einer schmalen Frisierkommode, auf der vergoldete Bürsten lagen, Fläschchen, kleine zierliche Schachteln und anderer Schnickschnack standen – darunter der Vogel, den er für sie dagelassen hatte und der in dem Durcheinander etwas verloren wirkte.
    Er ging zu der Kommode und betrachtete den Spiegel. Er war von makelloser, außergewöhnlicher Qualität und verzerrte nicht. Er bewunderte die Technik; auch wenn er über alle seine Kräfte verfügt hätte, wäre er zu solcher Präzision nicht in der Lage gewesen. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit seinem eigenen Gesicht zu. Er hatte es natürlich schon früher gesehen, aber nie so deutlich. Eine breite Stirn. Dunkle Augen unter dunklen Augenbrauen. Ein Kinn, das in einer abgerundeten Spitze auslief. Eine stark gebogene Nase. Seltsam, dass das wirklich er war. In seinem alten Leben hatte er sich nie Gedanken über seine körperliche Erscheinung gemacht; er hatte nur
Schakal
gedacht und war zu einem geworden, ohne sich um die Einzelheiten zu kümmern. Er hatte nichts gegen das Gesicht im Spiegel; er nahm an, dass es angenehm anzusehen war, und er war sich durchaus der Wirkung bewusst, die es auf andere hatte. Warum also hatte er das Gefühl, als hätte man ihm eine ganz wesentliche Wahlmöglichkeit genommen?
    In seinem Rücken bewegte sich etwas, dann schnappte jemand nach Luft: Sophia setzte sich im Bett auf und starrte ihn an, ihr Gesicht leichenblass. »Ich bin’s«, flüsterte er rasch.
    »Ahmad.« Sie hatte erschrocken eine Hand erhoben. Jetzt seufzte sie und ließ sie auf die Bettdecke sinken. »Was machst du hier?«
    »Deine Tür war offen.« Es klang verlegen, wie eine Entschuldigung.
    Sie blickte zur Tür, als ob sie sie im Stich gelassen hätte. »Ich habe sie geöffnet. Nachdem …« Sie rieb sich die Augen, holte tief Luft und setzte neu an. »Eine Woche lang habe ich fast gar nicht geschlafen. Ich habe die Tür jede Nacht offen gelassen. Und dann habe ich entschieden, dass du nicht wiederkommen würdest. An manchen Tagen habe ich versucht, mich davon zu überzeugen, dass ich mir alles nur eingebildet habe.« Sie sprach leise und tonlos. »Aber es ist mir nicht gelungen.«
    »Soll ich wieder gehen?«
    »Ja«, sagte sie. »Nein. Ich weiß nicht.« Sie rieb sich wieder die Augen, als würde ihr das helfen, einen inneren Konflikt zu lösen. Dann stand sie auf und schlüpfte in einen Morgenrock, darauf bedacht, Abstand zu ihm zu halten. Sie betrachtete ihn. »Warum bist du jetzt zurückgekommen, nach so langer Zeit?«
    »Um dich wiederzusehen.« Selbst in seinen Ohren klang das unzureichend.
    Sie lachte einmal leise auf. »Um mich zu
sehen.
Ich dachte, es ginge um etwas anderes.«
    Er runzelte die Stirn. Allmählich wurde es lächerlich. »Wenn du willst, dass ich gehe, dann musst du es nur sagen –«
    Doch im Nullkommanichts war sie bei ihm, legte die Arme um ihn und küsste ihn, sodass er zuerst nicht mehr sprechen und dann nicht mehr denken konnte.
    Diesmal ließ sie sich von ihm ins Bett tragen.
    Danach lagen sie nebeneinander unter den zusammengeknüllten Laken, und er hielt sie fest. Ihr Schweiß prickelte auf seiner Haut. Langsam setzten die Gedanken wieder ein. Es war seltsam: Dieses zweite Rendezvous war körperlich befriedigender gewesen – sie hatten mehr Zeit, ihre Körper zu erforschen und aufeinander zu reagieren, ihr Verlangen größer werden zu lassen –, aber er musste feststellen, dass ihm das erste Mal lieber gewesen war. Gefahr und Heimlichkeit hatten die erste Begegnung aufgeladen. Während er jetzt in diesem gigantischen Bett mit den vielen Kissen und Decken lag, seine Geliebte halb schlafend in den Armen, kam er sich fehl am Platz vor.
    »Du bist so warm«, murmelte sie. Er fuhr ihr sanft mit der Hand über die Hüfte und schwieg. Er hörte leise Geräusche im Haus – einen Dienstboten, der die Treppe hinunterging, das Pfeifen der Heizungsrohre. Draußen, jenseits des Gartens trabte langsam ein Pferd vorbei, seine Hufe klapperten leise auf den Pflastersteinen. Er spürte, wie die Ruhelosigkeit zurückkehrte.
    Sie drehte sich in seinen Armen um, schmiegte sich an seine Brust. Ihr Haar kitzelte ihn an der Schulter; er schob ein paar Strähnen fort. Sie hob die Hand, um seine zu nehmen, und berührte die eiserne Schelle. Er erstarrte.
    »Das Ding war mir noch nicht aufgefallen«, sagte sie. Sie hob den Kopf von seiner Brust, um sie zu begutachten. Er spürte, wie

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