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Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
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sie an der dünnen Kette zog, an der der Stift hing. »Er hat sich verklemmt«, sagte sie.
    »Man kann ihn nicht herausziehen.«
    »Dann hast du es immer um?«
    »Ja.«
    »Aber es sieht aus wie etwas, was ein Sklave tragen würde.«
    Er sagte nichts darauf. Er wollte nicht darüber sprechen, nicht in diesem Zimmer, nicht mit ihr.
    Sie stützte sich auf den Ellbogen, ihre Miene besorgt und neugierig. »Ahmad, warst du ein Sklave? Ist das die Bedeutung von diesem Ding?«
    »Das geht dich nichts an!«
    Die Worte klangen hart. Sie zuckte zusammen und zog sich zurück.
    »Es tut mir leid«, sagte sie etwas gekränkt. »Ich wollte nicht neugierig sein.«
    Er seufzte innerlich. Sie war noch ein Kind, und es war nicht ihre Schuld. »Komm her«, sagte er und zog sie an sich. Nach einem Moment gab sie nach, schmiegte sich wieder an ihn und legte den Kopf an seine Brust.
    »Hast du schon mal von den Dschinn gehört?«
    »Du hast das Wort schon einmal gebraucht«, erinnerte sie sich. »Ist das dasselbe wie ein Geist? Als Kind hatte ich ein Bilderbuch über einen Geist, der in einer Flasche gefangen war. Ein Mann hat ihn freigelassen, und der Geist hat ihm dafür drei Wünsche erfüllt.«
    Gefangen. Freigelassen. Wenn er bei diesen Worten zusammenzuckte, so merkte sie es nicht. Er sagte: »Ja, man kann einen Dschinn gefangen nehmen. Und manche Dschinn haben die Macht, Wünsche zu erfüllen, aber das ist sehr selten. Jeder Dschinn besteht aus einem Funken Feuer, so wie Menschen aus Fleisch und Blut bestehen. Sie können Tiergestalt annehmen. Und manche, die stärksten, sind in der Lage, in die Träume eines Menschen einzudringen.« Er blickte auf sie hinunter. »Soll ich weiter erzählen?«
    »Ja«, sagte sie, ihr Atem warm an seiner Brust. »Erzähl mir die Geschichte.«
    Er fuhr fort: »Vor vielen, vielen Jahren lebte ein Mann, ein König der Menschen, namens Suleiman. Er war sehr mächtig und sehr schlau. Er sammelte das Wissen der menschlichen Zauberer und vermehrte es zehnfach, und bald hatte er genug gelernt, um die Kontrolle über alle Dschinn zu erlangen, von den höchsten und mächtigsten bis zum niedersten, gemeinsten Ghul. Er konnte sie heraufbeschwören und ihnen Aufgaben auferlegen. Ein Dschinn musste ihm die schönsten Juwelen im ganzen Land bringen, ein anderer musste endlos Behälter mit Wasser holen, um die Gärten seiner Paläste zu wässern. Wenn er reisen wollte, setzte er sich auf einen wunderschönen gewebten Teppich, und vier der schnellsten Dschinn hoben ihn hoch und trugen ihn zwischen sich, während sie flogen.«
    »Der fliegende Teppich«, murmelte Sophia. »Der kam auch in der Geschichte vor.«
    Er sprach weiter, flüsternd, seine Worte in der Stille des Raums gerade noch hörbar. »Die Menschen verehrten Suleiman und sprachen noch lange nach seinem Tod von ihm als dem größten König. Aber die Dschinn grollten ihm, weil er die Macht über sie hatte. Als er starb und sein Wissen in alle vier Himmelsrichtungen verstreut wurde, jubelten sie über ihre Freiheit. Aber unter den ältesten Dschinn ging das Gerücht um, dass das verlorene Wissen eines Tages wiedergefunden werden würde. Die Menschen, so sagten sie, wären dann wieder fähig, noch den mächtigsten Dschinn ihrem Willen zu unterwerfen. Es sei nur eine Frage der Zeit.«
    Er hielt inne. Die Geschichte war aus ihm herausgesprudelt – er konnte sich nicht erinnern, jemals so lange gesprochen zu haben.
    Sophia bewegte sich. »Und dann?«, flüsterte sie. »Ahmad, und was geschah dann?«
    Er starrte an die flache weiße Decke. Ja, dachte er,
und was geschah dann
? Wie sollte er erklären, wie er besiegt worden war, wenn er es selbst nicht wusste? Er hatte es sich oft genug vorgestellt: ein spektakulärer Kampf, das Tal erbebte, die Wände seines Palastes splitterten, während er mit seinem Feind Schläge austauschte. Er stellte sich vor – er
hoffte
 –, dass es ein knapper Kampf gewesen war, dass er den Zauberer sogar ernsthaft verwundet hatte. Konnte er sich deswegen nicht mehr daran erinnern? Hatte er am Ende, aber zu spät gewonnen? Das frustrierende Gefühl, nicht zu wissen, was passiert war, rollte sich in ihm ein wie eine Viper. Und wie sollte Sophia es je verstehen? Für sie war es eine Kindergeschichte. Eine tote Legende aus uralten Zeiten.
    »Das ist alles«, sagte er schließlich. »Ich weiß nicht, wie die Geschichte ausgeht.«
    Stille. Er spürte ihre Enttäuschung, spürte, wie sich ihr Körper anspannte, der Atem veränderte. Als

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