Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Golem und Dschinn: Roman (German Edition)

Titel: Golem und Dschinn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Wecker
Vom Netzwerk:
sah zu, wie sich auf dem Topfboden Blasen bildeten, doch vor Müdigkeit und, wie er jetzt erst bemerkte, hartnäckigem Hunger verschwamm ihm das Bild vor Augen. Er suchte in den Schränken, fand jedoch nur uralte Brotkanten und ein fragwürdiges Glas mit Schmalz. Nachdem er sich gewaschen und gebetet hatte, würde er ausgehen und für das Abendessen einkaufen müssen. Auch die Wohnung musste er aufräumen, bevor der Golem kam.
    Schließlich war das Wasser heiß. Er zog sich in der kalten Küche aus und rieb sich zitternd mit einem Waschlappen ab. Er versuchte, den Husten zu unterdrücken. Zum ersten Mal überlegte er, wer als potenzieller Meister infrage käme. Meltzer? Ein guter Rabbi, aber zu alt und zu festgefahren in seinem bequemen Leben. Das Gleiche galt für Teitelbaum, was jammerschade war. Kaplan war eine Möglichkeit; er war jünger, aber dennoch ein Kind der alten Welt und würde daher die Idee wahrscheinlich nicht sofort ablehnen. Aber vielleicht fehlte es dem sehr gelehrten Kaplan an Mitgefühl.
    Er würde sich jedem von ihnen behutsam nähern müssen. Als Erstes müsste er sie überzeugen, dass ihn das Alter und die Einsamkeit nicht in den Wahnsinn getrieben hatten. Und selbst dann war mit Widerstand zu rechnen.
Warum zerstörst du sie nicht einfach?
, würden sie fragen.
Warum hast du dein Leben ruiniert und bittest jetzt mich, auch noch meins aufs Spiel zu setzen und diese Bedrohung am Leben zu lassen?
    Würde er antworten, dass er sie über die Maßen ins Herz geschlossen hatte? Dass sie ihn mit ihrem Eifer zu lernen, ihrer Entschlossenheit und Geduld so stolz gemacht hatte wie einen Vater? Arrangierte er ihre Zukunft oder ihr Ende?
    Tränen stiegen ihm in die Augen und schnürten ihm die Kehle zu, sodass er husten musste.
    Er ging ins Schlafzimmer, um sich saubere Kleidung anzuziehen. In der untersten Schublade der Kommode fiel sein Blick auf den Lederbeutel. Mit zitternden Fingern – er
musste
wirklich bald etwas essen – öffnete er ihn und nahm den kleinen Umschlag aus Ölpapier heraus, auf dem
Befehle für den Golem
stand. Er gehörte zu den anderen Papieren, entschied er. Die Uhr und die Geldscheine würde er dem Golem geben und sich dafür entschuldigen, dass er sie so lange behalten hatte. Aber den Umschlag würde er entweder weitergeben oder verbrennen. Sobald er entschieden hätte, was zu tun war.
    Als er den Umschlag ins Wohnzimmer trug, setzte der Anfall ein. Er beugte sich hustend vor; und dann ging ihm gänzlich die Luft aus. Es war, als hätte ihm jemand ein Stahlband um die Brust gelegt und zöge es enger und enger zu. Er schnappte nach Luft und hörte ein leises Keuchen. Sein Arm wurde taub.
    Das Wohnzimmer wurde länger und verfärbte sich an den Rändern grau, legte sich auf die Seite und drehte sich. Er spürte den alten Wollteppich unter der Wange. Er versuchte aufzustehen, rollte aber nur auf den Rücken. Eine leises knisterndes Geräusch: Er hatte den Umschlag aus Ölpapier noch in der Hand.
    In den letzten Augenblicken, die ihm noch blieben, erkannte Rabbi Meyer, dass er es nie hätte tun können. Der kleine Mord mit seiner neuen Formel oder die totale Zerstörung mit dem Spruch im Umschlag: Er wäre zu keinem von beiden in der Lage gewesen, solange sie seine Chava war, die unschuldige neugeborene Frau, die er zum ersten Mal mit einem Spatzen in der Hand gesehen hatte.
    Er versuchte, den Umschlag unter den Tisch zu werfen. War er dort gelandet? Er wusste es nicht. Sie würde ihren Weg allein gehen müssen, er hatte getan, was er konnte. Sein Körper fühlte nichts mehr, alle Empfindungen zogen sich aus seinen Gliedern in seinen Bauch zurück. Ihm ging durch den Sinn, dass er die
Widduj
sagen müsste, das Sündenbekenntnis vor dem Tod. Er versuchte, sich daran zu erinnern:
Gesegnet seist Du, der Du mir so viele Segnungen hast zuteil werden lassen. Möge mein Tod die Buße sein für alles, was ich getan habe … und möge ich in der nächsten Welt im Schatten Deiner Flügel Schutz finden.
    Er starrte auf den Himmel jenseits des Wohnzimmerfensters. Das strahlende Blau erstreckte sich so hoch, dass es schien, als würde es ihn in sich hineinziehen, rein und weit und allumfassend.

    Am Abend ging der Golem mit einem sorgfältig eingewickelten Apfelstrudel zum Rabbi. Sie schritt weit aus, streckte die Beine und spürte, wie die kalte Nachtluft in ihren Körper drang. In den Fenstern glühten Lampen.
    Niemand öffnete, als sie an die Tür des Rabbis klopfte.
    Sie klopfte noch

Weitere Kostenlose Bücher