GOLIATH - Die Stunde der Wahrheit
seiner Seite gekämpft und ihm beigebracht, wie man richtig auf Englisch fluchte und wie man ein Messer zu werfen hatte. Außerdem hatte sie ihm das Leben gerettet und ihn gleichzeitig darüber belogen, wer sie wirklich war.
»Als wir in Istanbul waren«, fuhr Deryn fort, »und ich dachte, wir würden niemals wieder auf die Leviathan zurückkehren, habe ich ein Dutzend Mal versucht, es dir zu sagen. Und vor einer Woche im Vogelschlag, nachdem Newkirk meinen Onkel erwähnte, hätte ich es dir auch beinahe erzählt. Aber ich wollte nicht … alles zwischen uns ruinieren.«
»Alles ruinieren? Was meinst du damit?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ach, nichts.«
»Offensichtlich ist es mehr als nichts .«
Sie schluckte und nahm die Hände vom Tisch, fast so, als hätte sie sein scharfer Ton verängstigt. Aber Dylan Sharp ließ sich nicht verängstigen, höchstens durch Feuer.
»Sag schon, Deryn.« Der Name hatte einen seltsamen Geschmack.
»Ich dachte, du könntest es nicht ertragen.«
»Weil ich zu zart besaitet bin? Hast du gedacht, mein zerbrechlicher Stolz würde leiden, nur weil ein Mädchen bessere Knoten beherrscht als ich?«
»Nein! So hätte vielleicht Volger gedacht, ich aber nicht.«
Alek kniff die Augen zu, weil erneut Wut in ihm aufstieg. Während er sich am Nachmittag im Bett hin und her geworfen und darüber nachgedacht hatte, ob der Loris richtig lag, hatte er Deryns Streit mit Volger ganz vergessen. Aber jetzt war alles ganz offensichtlich …
»Warum hat er es mir nicht erzählt?«
»Er wollte dich nicht aufregen.«
»Schon wieder eine Lüge!« Alek erhob sich. »Jetzt sehe ich klar. Deshalb wolltest du uns bei der Flucht helfen, und deshalb hast du meine Geheimnisse bewahrt. Nicht, weil du mein Freund bist. Sondern, weil dich Volger die ganze Zeit erpresst hat!«
»Nein, Alek. Ich habe es gemacht, weil ich dein Freund und Verbündeter bin!«
Alek schüttelte den Kopf. »Aber wie soll ich mir da sicher sein? Du hast mich schließlich belogen.«
Einen Moment lang antwortete Deryn nicht und starrte ihn über den Schreibtisch an. Erneut rannen Tränen über ihre Wangen, doch sie saß da wie erstarrt.
Alek begann, in der Kabine hin und her zu gehen. »Deshalb hat es mir Volger nicht erzählt, weil er so ein Druckmittel in der Hand hatte. Du hast dich lediglich selbst geschützt.«
»Alek, sei nicht blöd«, erwiderte sie leise. »Volger hat vielleicht versucht, mich zu erpressen, aber ich war schon dein Freund, lange bevor er es erfahren hat.«
»Wie soll ich dir das glauben?«
»Volger war doch in Istanbul nicht bei uns, oder? Glaubst du, ich bin vom Schiff gesprungen und habe mich deiner brüllenden Revolution seinetwegen angeschlossen?«
Alek ballte die Hände zu Fäusten und ging weiter hin und her. »Ich weiß es nicht.«
»Ich bin nicht wegen Volger nach Istanbul gekommen, und auch nicht wegen der Mission. Eigentlich sollte ich gar nicht in die Stadt gehen, sondern nur in die Dardanellen. Das weißt du doch, oder?«
Alek schüttelte den Kopf und versuchte, Ordnung in seine Gedanken zu bringen. »Deine Männer wurden erwischt, daher warst du von der Leviathan abgeschnitten. Du hattest keine andere Wahl, als dich mir anzuschließen.«
»Nein, du dummer Prinz! Das haben dir die Offiziere erzählt. Im Hafen von Istanbul lagen hundert britische Schiffe. Ich hätte jederzeit eines nehmen und ins Mittelmeer fahren können. Aber Volger hatte gesagt, du seiest in Gefahr, und du würdest in der Stadt sein und kämpfen, anstatt dich zu verstecken. Daher konnte ich dich nicht allein lassen. Ich musste dich retten!« Bei den letzten Worten versagte ihre Stimme, und sie atmete heftig durch. »Du bist mein bester Freund, Alek, und ich wollte dich nicht verlieren. Ich würde alles tun, um dich nicht zu verlieren …«
Er starrte sie an und verharrte mitten im Schritt. Ihre Stimme klang ganz anders, wie die einer anderen Person. Er fragte sich, ob sie die Stimme früher immer verstellt hatte, oder ob er sie einfach anders wahrnahm, seit er wusste, dass sie ein Mädchen war.
»Was heißt das, mich verlieren? Ich bin bereits weggelaufen.«
Sie fluchte, erhob sich und ging zur Tür. »Das ist alles, was du wissen musst, du Prinz Dummerchen: Ich bin dein Freund. Jetzt muss ich das Tierchen holen, ehe es sich auf die Suche nach uns macht und dabei jemanden weckt.«
Ohne ein weiteres Wort verließ sie die Kabine.
Alek schaute zu, wie sich die Tür schloss. Warum war das so wichtig, dass sie sich ihm
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