GOLIATH - Die Stunde der Wahrheit
flüsterte jemand drängend hinter ihm.
Einerseits freute er sich, dass Deryn ihm hinterhergekommen war. Nicht, weil er mit ihr reden wollte, sondern weil er wieder fortgehen konnte.
Er ging weiter.
»Alek!«, wiederholte sie, diesmal laut genug, um die schlafenden Männer zu wecken. Alek war schon fast bei den Offizierskabinen angelangt. Sollte das Mädchen doch schreien, wo die es hören konnten.
Sie hatte alle angelogen, oder? Ihren Kapitän, ihre Offiziere und ihre Schiffskameraden. Ihr feierlicher Eid, König George zu dienen, war nur eine Lüge gewesen.
Sie packte ihn an der Schulter. »Prinz Dummerchen! Bleib stehen!«
Alek fuhr herum, und schweigend starrten sie sich an. Es versetzte ihm einen Stich, als er ihre scharfen, feinen Gesichtszüge nun als das sah, was sie waren. Als er sah, wie er sich völlig zum Narren hatte halten lassen.
»Du hast mich angelogen«, flüsterte er schließlich.
»Na, das ist ja auch brüllend unübersehbar. Sonst noch etwas?«
Alek riss die Augen auf. Dieses … Mädchen hatte die Dreistigkeit, auch noch unverschämt zu werden?
»Dein ganzes Geschwätz über Pflicht und so, und dabei warst du nicht einmal ein Soldat.«
»Ich bin ein brüllender Soldat!«, knurrte sie.
»Du bist ein Mädchen, das wie ein Soldat angezogen ist.« Alek sah, wie hart sie die Worte trafen, und er wandte sich abermals ab. Befriedigung mischte sich in seine Wut.
Bis zu diesem Augenblick hatte er es nicht geglaubt. Der Zeitungsbericht, ihre Lügen gegenüber der Mannschaft, was ihren Vater betraf, sogar die geflüsterten Worte des Perspikuitiven Loris hatten ihn nicht überzeugt. Aber Deryn hatte ohne mit der Wimper zu zucken geantwortete, als er sie mit ihrem richtigen Namen angesprochen hatte.
»Sag das noch einmal«, fauchte sie ihn an.
Alek ging weiter. Er hatte keine Lust auf dieses absurde Gespräch, sondern wollte einfach nur in seine Kabine und die Tür hinter sich verschließen.
Plötzlich stolperte er vorwärts. Seine Beine verhedderten sich. Er landete auf Händen und Knien und starrte auf den Boden.
Dann sah er zu ihr hoch. »Hast du mich gerade … geschubst ?«
»Aye.« Ihre Augen waren wild. »Sag das noch mal.«
Alek stand auf. »Was soll ich noch mal sagen?«
»Dass ich kein richtiger Soldat bin.«
»Also gut. Du bist kein richtiger – Uff !«
Alek taumelte rückwärts, der Atem wich ihm aus den Lungen. Sein Rücken krachte gegen eine Kabinentür – Deryn hatte ihm in den Bauch gehauen. Und zwar kräftig.
Er ballte die Fäuste, und der Zorn flutete durch seine Adern. Plötzlich entdeckte er eine Blöße, weil sie die Fäuste zu niedrig hielt und ihren verletzten Fuß schonte …
Ehe er ausholte, begriff er, dass er nicht zurückschlagen konnte. Nicht, weil sie ein Mädchen war, sondern, weil sie unbedingt kämpfen wollte. Damit sie sich wie ein richtiger Junge fühlte.
Alek richtete sich auf. »Möchtest du vorschlagen, dass wir die Angelegenheit mit einem Faustkampf regeln?«
»Ich möchte vorschlagen, dass du sagst, dass ich ein richtiger Soldat bin.«
Er sah ein Glitzern im Dunkeln und grinste höhnisch. »Weinen richtige Soldaten denn?«
Deryn fluchte ausgiebig und wischte sich mit der Faust die Träne von der linken Wange. »Ich weine nicht, ich –«
Sie verstummte, als sich die Kabinentür hinter Alek öffnete. Er verlor einen Moment das Gleichgewicht und trat einen Schritt nach hinten. Hinter ihm tauchte verschlafen und im Nachthemd Dr. Busk auf und starrte sie verärgert an.
Sein Blick ging zwischen den beiden hin und her. »Was ist hier los, Sharp?«
Sie nahm die Fäuste herunter. »Nichts, Sir. Wir dachten, wir hätten gehört, wie einer der Russen hier herumschleicht. Aber möglicherweise war es nur ein Schnüffler.«
Der Eierkopf sah den Gang auf und ab. »Ein Schnüffler, ja? Na, was immer es war, benehmen Sie sich leise , Junge.«
»Bitte entschuldigen Sie, Sir«, sagte Alek und verneigte sich knapp.
Dr. Busk verneigte sich ebenfalls. »Das ist doch nicht nötig, Hoheit. Gute Nacht.«
Die Tür schloss, und Alek blickte Deryn einen Moment lang in die Augen. Die nackte Angst, die er da entdeckte, versetzte ihm einen Stich. Sie hatte erwartet, dass er dem Eierkopf alles verriet. Wofür hielt sie ihn eigentlich?
Er drehte sich um und wollte zu seiner Kabine gehen.
Ihre leisen Schritte folgten ihm, als habe er sie gebeten, mitzukommen. Er seufzte, und die Wut verflüchtigte sich bis auf ein Grummeln, dort, wo ihn ihr Hieb in den Bauch
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