Goliath: Roman (German Edition)
Sowjetunion die größte und schlagkräftigste U-Boot-Flotte der Welt bauen. Jedes einzelne Boot werde in der Lage sein, den Feinden seines Landes einen tödlichen Schlag zu versetzen. Das Ergebnis waren die Boote der Typhoon-Klasse, sechs atomare Monster, bewaffnet mit je zwanzig Interkontinentalraketen des Typs SS N 20 Sturgeon. Die dreistufigen Feststoffgeschosse waren mit jeweils zehn unabhängig ausrichtbaren Atomsprengköpfen bestückt, genug, um innerhalb weniger Minuten jede größere Stadt der Vereinigten Staaten dem Erdboden gleichzumachen.
Übereilt in Dienst gestellt, litt die Typhoon-Klasse von Anfang an unter einer Reihe technischer Mängel, die ihren Einsatz erheblich behinderte. Bedingt durch das Ende des Kommunismus und die chronische russische Wirtschaftskrise lagen die meisten Boote in der Werft, ohne dass die dringend nötige Überholung je durchgeführt wurde. Im Jahr 2003 wurde deshalb eine kleinere, besser getarnte Generation strategischer U-Boote, die Borej-Klasse, in Dienst gestellt, um das Typhoon offiziell zu ersetzen.
Momentan warten vier der sechs fertiggestellten Typhoons an den Piers von Nerpitschja im Nordwesten der Halbinsel Kola darauf, abgewrackt zu werden. Ein weiteres Boot liegt ohne Brennstäbe im Trockendock, ohne dass Gelder für seine Überholung bewilligt wären.
Das letzte verbliebene Schiff, das die prosaische Bezeichnung TK 20 trägt, fährt langsam durch das bewegte Wasser der Barentssee. Vor ihm liegt das Eis des Nordpolarmeers.
Kapitän Juri Romanow zieht die Kapuze seines Parkas enger um den Kopf. Seine Augen tränen von der Kälte, während er von dem Wind und Wetter ausgesetzten Ausguck im Turm seines U-Boots blickt. Bis zum Morgengrauen ist es noch eine gute Stunde, doch die ersten Sterne verblassen schon im frühen Zwielicht. Dampfend verteilt sich der Atem des Kapitäns auf seinem lockigen schwarzen Bart. Romanow hebt den Kopf. Irgendwo da droben beobachtet ein geosynchroner amerikanischer Satellit sein Schiff, registriert das Kielwasser und identifiziert die Wärmesignatur.
Der sechsundvierzigjährige Offizier widersteht der Versuchung, zum Gruß den Mittelfinger zu heben.
Juri Romanow kam mit neunzehn Jahren zur sowjetischen Marine. Damit trat er in die Fußstapfen seines Vaters Igor, eines der ersten Typhoon-Kommandanten, und seines Großvaters Wladimir, dessen Kriegsschiff im Zweiten Weltkrieg von einem deutschen U-Boot versenkt worden war. In den siebenundzwanzig Jahren, die seither vergangen sind, hat Romanow an mehr als dreißig Einsätzen teilgenommen und zwölf weitere befehligt.
Man braucht besondere persönliche Strukturen, um auf einem Unterseeboot zu dienen. Der Stress, in einer klaustrophobisch engen Umgebung unter Wasser zu leben, und das Wissen, dass schon das kleinste mechanische Versagen das Schiff in einen riesigen stählernen Sarg verwandeln kann, stellen bestimmte Anforderungen an die Psyche des U-Boot-Fahrers. In einem Unterseeboot weiß jeder, dass sein Verhalten direkt dazu beiträgt, ob er weiterleben oder sterben wird. Es ist diese Verantwortung, unter lebensgefährlichen Umständen zu arbeiten, die das Schiff und seine Besatzung miteinander verbindet. Es ist diese einzigartige Herausforderung, die Kapitän Romanow dazu motiviert, vier Monate jeden Jahres von seiner Frau und seinen drei Töchtern getrennt zu sein.
Juri Romanows erster Einsatz wäre fast auch sein letzter gewesen. Es war 1986, als der junge Matrose K 219 zugeteilt worden war, einem strategischen Atom-U-Boot der Yankee-Klasse. In den Abendstunden des 4. Oktober war das Schiff in die Gewässer von Bermuda eingedrungen, mehrere Hundert Seemeilen von der Ostküste der Vereinigten Staaten entfernt. Romanow war in der Kommandozentrale damit beschäftigt gewesen, das Zielerfassungssystem des U-Boots auf den neuesten Stand zu bringen. Er hatte gerade die Koordinaten der Zielorte Washington, New York und Boston berechnet und eingegeben, als der Kommandant des Bootes, Kapitän Britanow, einen »Crazy Ivan« angeordnet hatte, ein plötzliches Wendemanöver um hundertachtzig Grad, um etwaige Verfolger aufzuscheuchen.
Der russische Kapitän war sich dabei nicht im Klaren, dass sein Boot tatsächlich verfolgt wurde – von der USS Aurora , einem Angriffs-U-Boot der Los Angeles-Klasse, das die Sowjets beim Eindringen in die Gewässer von Bermuda geortet hatte. Als K 219 wendete, schrammte es mit der Oberseite am stählernen Bauch seines amerikanischen Verfolgers entlang, der
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