Goliath: Roman (German Edition)
seine Maschinen abgestellt hatte, um nicht gehört zu werden.
Das sowjetische U-Boot war mit sechzehn Atomraketen bestückt. Durch den Zusammenstoß mit der Aurora barst einer der Raketentanks. Fester Brennstoff vermischte sich mit Meerwasser, wodurch sich innerhalb des Silos unter Druck stehendes Gas entwickelte. Die folgende Explosion erschütterte das sowjetische U-Boot und entfachte einen verheerenden Brand, der rasch außer Kontrolle geriet.
K 219 war gezwungen aufzutauchen. Rauch quoll aus dem rasch geöffneten Raketensilo. Als die Flammen auch den Flüssigtreibstoff zu entzünden drohten, entschied Kapitän Britanow sich zu einem gewagten Manöver. Während der Kommandant des amerikanischen U-Boots ihn durch sein Sehrohr beobachtete, ließ er auch alle übrigen Silos öffnen, ein Vorgang, der bei einer Fehlinterpretation leicht zum Ausbruch des Dritten Weltkriegs hätte führen können. Anschließend steuerte Britanow sein Boot in zwanzig Meter Tiefe, um die Raketensilos zu fluten und den Brand zu löschen. Als K 219 sich wieder an die Oberfläche kämpfte, war eine kleine Flotte sowjetischer Begleitschiffe schon unterwegs, um ihm zu Hilfe zu eilen.
Erst wesentlich später erfuhr die amerikanische Öffentlichkeit, was die Mannschaft der Aurora bereits damals wusste: die beiden Atomreaktoren des sowjetischen U-Boots hatten einen kritischen Zustand erreicht, bei dem sämtliche Notfallsysteme versagten. Während K 219 sich aufgetaucht nach Norden in tieferes Gewässer mühte, standen ein beherzter Ingenieur und der junge Matrose Sergej Borodin, Juri Romanows bester Freund, im Reaktorraum und versuchten verzweifelt, die überhitzten Reaktoren abzuschalten. Das gelang den beiden zwar rechtzeitig, aber sie mussten ihren Einsatz mit dem Tod bezahlen. Ganze vier Minuten und zwanzig Minuten später hätten die überhitzten Brennstäbe eine Kernschmelze verursacht und eine radioaktive Wolke entstehen lassen, von der die Nordostküste der Vereinigten Staaten bedroht worden wäre.
Am 6. Oktober erschien gegen 23 Uhr endlich ein sowjetisches Begleitschiff am Schauplatz, um die Mannschaft des U-Boots zu retten. K 219 wurde geflutet und versenkt. Beim Aufprall in über fünftausend Metern Tiefe barst der Rumpf; Raketenteile und radioaktiver Abfall verteilten sich auf dem Meeresboden.
Mit den Überlebenden der Katastrophe kehrte auch Juri Romanow in die Sowjetunion zurück, wo er ausgiebig befragt und einem neuen Boot zugewiesen wurde. Eine Woche später, am 11. Oktober, trafen sich die Präsidenten Gorbatschow und Reagan in der isländischen Hauptstadt Reykjavik, um Friedensgespräche über die atomare Abrüstung zu beginnen.
Bis heute haben die meisten Amerikaner keine Ahnung, wie knapp sie an jenem Herbstabend des Jahres 1986 einer atomaren Katastrophe entgangen sind. Die Vereinigten Staaten weisen weiterhin jede Schuld an dem Zusammenstoß von sich. Juri Romanow aber hat die Tapferkeit seines Freundes Sergej und seiner anderen Kameraden nie vergessen. Als er zum Kommandanten ernannt wurde, hat er sich viele seiner Leute aus der alten Mannschaft von Kapitän Britanow ausgesucht, darunter die Hälfte der Offiziere, die momentan auf dem instand gesetzten Typhoon dienen.
Iwan Kron, der Erste Offizier, klettert neben Romanow in den Ausguck. »Es ist Zeit, Käpt’n.«
»Gleich.« Romanow blickt nachdenklich auf die Bugwelle. »Ein wahrhaft großartiges Schiff, nicht wahr, Kron?«
»Die Iraner haben es nicht verdient. Außerdem wird es den Amerikanern gar nicht gefallen, dass wir es in den Persischen Golf liefern.«
Der Kapitän beugt sich vor und spuckt ins Meer. »Wir sind keine Politiker, mein Lieber. Die Regierung hat ihre Gründe für den Verkauf.«
»Ja, Geld. Aber dass man gerade uns beauftragt hat, das Boot zu liefern und seine neue Mannschaft auszubilden, ist reine Zeitverschwendung. Sie sind der erfahrenste Kommandant der Nordflotte. Man hätte uns eines der neuen Boote überlassen sollen …«
»Wie unserem lieben Freund Gennadi, den man vom Grund der Barentssee geborgen hat?« Die Anspielung auf Kapitän Ljatschin und den Untergang der Kursk bringt den Ersten Offizier vorübergehend zum Schweigen.
»Wir müssen Geduld haben, Iwan. Irgendwann wird der Admiral uns ein Boot der neuen Borej-Klasse zuweisen. Freuen wir uns vorläufig über die Ehre, das letzte Typhoon der Flotte zu befehligen.«
Kron schneuzt sich die Nase. »Mir wäre die Tomsk oder ein noch älteres Boot lieber. Die Überholung dieses
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