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Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra

Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra

Titel: Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Saviano
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organisiert. Die Verwandten der Angeklagten saßen dicht gedrängt in einem Raum neben dem bunkerartig gesicherten Gerichtssaal und verfolgten das Geschehen am Bildschirm. Als der Vorsitzende Richter Catello Marano den dreißig Seiten dicken Urteilsspruch zur Hand nahm, wurde es totenstill. Schwere Atemzüge, Schluckbewegungen Hunderter von Kehlen, das Ticken Hunderter Armbanduhren, das lautlose Vibrieren zahlloser stumm geschalteter Handys. Eine nervöse Stille, begleitet von einem Orchester beklommener Geräusche. Der Vorsitzende Richter verlas zunächst die Liste der Verurteilten, danach die Liste derer, die freigesprochen wurden. Einundzwanzigmal lebenslänglich, mehr als siebenhundertfünfzig Jahre Freiheitsstrafe. Eimmdzwanzigmal verlas der Vorsitzende Richter das gleiche Urteil, wieder und wieder fielen die Namen der Verurteilten. Siebzigmal verlas er die Freiheitsstrafe, die die einfachen Soldaten und die Manager absitzen mußten, um für ihren Pakt mit der grausamen Macht der Casalesen zu büßen. Um halb zwei war alles vorbei. Sandokan bat ums Wort. Er war unruhig, wollte auf das Urteil reagieren und noch einmal seine These bekräftigen, die These seines Verteidigerstabs: daß er ein erfolgreicher Unternehmer sei, daß mißgünstige marxistische Staatsanwälte sich gegen ihn verschworen hätten, die die wirtschaftliche Macht der aversani-schen Bourgeoisie nicht als das Ergebnis unternehmerischer Tüchtigkeit, sondern als die Folge krimineller Machenschaften betrachteten. Er wollte sich darüber auslassen, wie ungerecht das Urteil sei. Sämtliche Morde in der Provinz Caserta seien, so seine Argumentation, die Folge von Blutrache, wie sie die lokale bäuerliche Kultur kenne, und nicht die Folge blutiger Auseinandersetzungen innerhalb der Camorra. Aber diesmal gestattete man Sandokan nicht zu reden. Man brachte ihn zum Schweigen wie einen ungezogenen Schüler. Als er anfing zu schimpfen, ließen die Richter einfach den Ton abschalten. Jetzt sah man nur noch einen sich ereifernden, großen bärtigen Mann, bis auch der Bildschirm dunkel wurde. Der Gerichtssaal leerte sich zügig, Polizei und Carabinieri zogen sich langsam zurück, während ein Hubschrauber weiter über dem Gerichtsgebäude, dem Bunker, kreiste. Seltsam, aber ich hatte nicht das Gefühl, der Clan der Casalesen sei besiegt. Viele seiner Mitglieder verschwanden für ein paar Jahre hinter Gittern, die Bosse würden das Gefängnis bis an ihr Lebensende nicht mehr verlassen. Der eine oder andere von ihnen entschloß sich womöglich nach einiger Zeit, mit den Justizbehörden zusammenzuarbeiten, um doch noch einen Teil seines Lebens außerhalb der Gefängnismauern verbringen zu können. Sandokan muß die erstickende Wut eines Machtmenschen empfunden haben, der jeden Winkel seines Reiches genau kennt, ohne es jemals wieder betreten zu können.
    Bosse, die es ablehnen, mit der Justiz zusammenzuarbeiten, zehren von einer nur mehr metaphysischen, gewissermaßen imaginären Macht und können nur eines tun: sie müssen diejenigen Unternehmer vergessen, die sie selbst einst unterstützt und gefördert haben, die aber ungeschoren davongekommen sind, weil sie keine Clanmitglieder waren. Wenn die Bosse nur wollten, sie könnten auch sie hinter Gitter bringen, aber dann müßten sie mit den Behörden kooperieren, und das hatte den sofortigen Verlust ihrer obersten Befehlsgewalt zur Folge und würde ihre Angehörigen gefährden. In diesem Fall könnten sie vielfach auch ihre Finanzströme und legalen Investitionen nicht mehr steuern, und das wäre für einen Boss ungleich schlimmer. Selbst wenn die Bosse bereit wären, als
    Kronzeugen der Justiz auszusagen und die Fundamente ihrer Macht offenzulegen, sie wüßten doch nie bis ins letzte, was mit ihrem Geld passiert ist. Die Bosse zahlen immer, daran führt kein Weg vorbei. Sie morden, sie haben das militärische Kommando, und sie stehen ganz oben, wenn es darum geht, illegales Kapital zu generieren. Und damit sind ihnen ihre Verbrechen immer nachweisbar, die Spuren lassen sich kaum verwischen, jedenfalls nicht so gut wie die Geschäftspraktiken der Weiße-Kragen-Mafia in der zweiten Reihe. Zudem ist man nicht für immer und ewig Boss. Cutolo mußte Bardellino weichen, Bardellino Sandokan, Sandokan Zagaria, La Monica Di Lauro, Di Lauro den Spaniern und so weiter. Die wirtschaftliche Stärke des Systems Camorra liegt ja nicht zuletzt in der permanenten Erneuerung ihres Führungspersonals und in der Restrukturierung

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