Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra
Insgesamt etwa zweihundert. Zwei Hubschrauber donnerten in so geringer Höhe über das Gebäude hinweg, daß einem der Lärm der Rotoren in den Ohren dröhnte. Bombenspürhunde, mobile Einsatzkommandos. Die Atmosphäre war zum Zerreißen gespannt. Trotzdem fehlten die überregionale Presse und das überregionale Fernsehen. Der größte Prozeß gegen ein kriminelles Kartell, sowohl was die Zahl der Angeklagten als auch das geforderte Strafmaß anging, wurde von den Medien vollkommen ignoriert. Juristen ist der »Spartacus«-Prozeß unter der Registernummer 3615 geläufig. Er stützte sich vor allem auf die Aussagen des Kronzeugen Carmine Schiavone. Seit 1993 hatte die Antimafia-Staatsanwaltschaft gegen rund tausenddreihundert Personen ermittelt.
Der Prozeß zog sich über sieben Jahre und einundzwanzig Tage hin. Mit insgesamt sechshundertsechsundzwanzig Anhörungen war es der umfangreichste Prozeß, der in den letzten fünfzehn Jahren gegen die Mafia in Italien geführt wurde. Fünfhundert Zeugen wurden vernommen; mehr als vierundzwanzig Personen, davon sechs Angeklagte, waren zur Zusammenarbeit mit der Justiz bereit. Das Material füllte neunzig Aktenordner; Beweismittel aus anderen Prozessen, Dokumente und Telefonmitschnitte wurden herangezogen. Ein knappes Jahr nach der Polizeirazzia von 1995 begannen die Anschlußermittlungen zu den Prozessen »Spartacus 2« und »Regi Lagni«. Im Falle der »Regi Lagni« ging es um die Sanierung der bourbonischen Kanäle aus dem 18. Jahrhundert, die seither nicht mehr adäquat instand gesetzt worden waren. Die Sanierung der Regi Lagni wurde über Jahre hinweg von den Clans manipuliert, die laut Anklage milliardenschwere Aufträge an
Land gezogen hatten. Doch die für die Sanierung vorgesehenen Gelder flossen in ihre eigenen Bauunternehmen und verschafften ihnen in den folgenden Jahren entscheidende Wettbewerbsvorteile in ganz Italien. Es folgte der »Aima«-Prozeß, in dem es um betrügerische Machenschaften der casalesischen Clans bei der Vernichtung überschüssiger Ernteerträge in den berühmten Sammelstellen ging. Hier sollten die von der EU aus dem Handel gezogenen landwirtschaftlichen Produkte entsorgt werden; die Bauern erhielten dafür Entschädigungszahlungen. In die riesigen Gruben, die eigentlich für Obst und Gemüse vorgesehen waren, kippten die Clans Müll, Eisen und Bauschutt. Zuvor jedoch ließen sie den ganzen Dreck wiegen, als handelte es sich tatsächlich um Obst und Gemüse. Sie kassierten die Entschädigungszahlungen, während ihr Obst und Gemüse weiterhin überallhin verkauft wurde. Hunderteinunddreißig Beschlagnahmen von Unternehmen, Grundstük-ken und landwirtschaftlichen Betrieben im Gesamtwert von mehreren hundert Millionen Euro wurden verfügt. Von diesen Maßnahmen betroffen waren auch zwei Fußballvereine: Albanova, das in der C2-Liga spielte, und Casal di Principe.
Die Fahnder untersuchten auch die Praxis der Clans, öffentliche Bauaufträge an sich zu ziehen und Subkonzessionen an Unternehmen zu vergeben, die der Organisation nahestanden, sowie damit verbunden die beherrschende Stellung bei der Lieferung von Beton und der Durchführung von Erdarbeiten. Ein weiteres wichtiges Kapitel der Ermittlungen war Betrug zum Schaden der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, insbesondere erschwindelte Zahlungen im Agrar- und Ernährungssektor. Und dann Hunderte von Morden und unternehmerische Allianzen. Während ich wie alle anderen im Gerichtssaal auf die Urteilsverkündigung wartete, wurde mir klar, daß dies hier kein Prozeß war wie jeder andere, kein einfacher und gewöhnlicher Prozeß gegen Camorra-Familien im ländlichen Süden. Dieser Prozeß würde in die Geschichte eingehen, eine Art Nürnberger Prozeß gegen eine ganze Generation von Camorristen. Im Unterschied aber zu den Größen des Dritten Reichs hatten viele Camorristen, die jetzt auf der Anklagebank saßen, nach wie vor die Zügel in der Hand, beherrschten weiterhin ihre Imperien. Ein Nürnberg ohne Sieger. Die Angeklagten in ihren Käfigen hüllten sich in Schweigen. Sandokan saß im Gefängnis von Viterbo ein, er war per Videoübertragung mit dem Gerichtssaal verbunden. Reglos verfolgte er den Prozeß. Es wäre viel zu riskant gewesen, ihn zu verlegen. Im Gerichtssaal war nur das Geschrei der Anwälte zu hören. Mehr als zwanzig Anwaltskanzleien waren eingeschaltet worden, über fünfzig Anwälte und Assistenten hatten die Fälle studiert, den Prozeß verfolgt, die Verteidigung
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