Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra
ihrer kriminellen Betätigungsfelder. Die Diktatur eines Clanchefs ist stets zeitlich befristet. Ein Boss, der zu lange an der Macht ist, würde die Preise in die Höhe treiben, die Märkte monopolisieren und damit lähmen; er würde immer nur in bewährte Segmente investieren und keine neuen Märkte mehr erschließen. Er wäre kein Nutzbringer für die kriminelle Wirtschaft, er würde sie behindern. Kaum ist also ein Boss an der Macht, stehen schon andere bereit, ihm seine Position streitig zu machen, entschlossen, auf Expansion zu setzen und auf die Schultern der Riesen zu steigen, die groß zu machen sie selber mitgeholfen haben. Der Journalist Riccardo Orioles, einer der aufmerksamsten Beobachter der Dynamiken der Macht, betonte immer wieder: »Kriminalität ist nicht die Macht, sie ist nur eine von vielen.« Kein Boss wird jemals einen Posten in der Regierung anstreben. Gäbe es keine andere Macht außer der Camorra, könnte sie nicht das tun, was sie tut. Gerade an der Schnittstelle zwischen der legalen und illegalen Wirtschaft nämlich liegt ihr eigentliches Operationsgebiet. In diesem Sinn dient jede Verhaftung und jeder Mammutprozeß eher dazu, einen neuen Boss zu inthronisieren bzw. eine Ära der Macht zu beenden, als das System als Ganzes zu zerstören.
Die Fotos mit den Gesichtern der Bosse, der Helfershelfer und kleinen Handlanger, der jugendlichen Mitglieder und der alten Galgenstricke, die tags darauf in den Zeitungen zu sehen waren, zeigten keinen Höllenkreis von Kriminellen. Alle diese Leute waren Mosaiksteinchen in einem Machtgefüge, das zwanzig Jahre lang niemand hatte ignorieren und dem niemand hatte die Stirn bieten können. Nach dem Urteil im »Spartacus«-Prozeß ließen die Bosse, jetzt von der Gefängniszelle aus, diejenigen Richter und Staatsanwälte, Journalisten und all die übrigen direkt oder indirekt bedrohen, die ihrer Meinung nach dazu beigetragen hatten, die Manager des Zements und der Mozzarella vor den Augen des Gesetzes als Killer darzustellen.
Vor allem der Senator Lorenzo Diana blieb die bevorzugte Zielscheibe ihres Hasses, dem sie mit Briefen an Lokalzeitungen und expliziten Drohungen während der Prozesse Luft machten. Unmittelbar nach dem Urteil im »Spartacus«-Pro-zeß drangen Unbekannte in die Forellenzucht von Dianas Bruder ein und holten die Fische aus den Becken, die qualvoll am Boden zappelnd verendeten. Einige Kronzeugen gaben an, die »Falken« der Organisation planten sogar einen Anschlag auf den Senator. Ein Vorhaben, das durch die Vermittlung eher diplomatisch gesinnter Kreise innerhalb des Clans nicht weiterverfolgt wurde. Als entmutigend erwies sich wohl nicht zuletzt die Eskorte. Die bewaffnete Eskorte selbst ist für die Clans nie ein Hindernis. Sie schrecken nicht zurück vor gepanzerten Autos und bewaffneten Polizisten; aber eine Eskorte ist immer auch ein Signal. Das Signal dafür, daß derjenige, den man ausschalten will, nicht allein ist, daß man sich seiner nicht so leicht entledigen kann. Um den Senator würde nicht nur sein engster Fa mili enkreis trauern. Lorenzo Diana gehört zu jenen Politikern, die fest entschlossen sind, das komplexe Machtgefüge der Casalesen aufzudecken, nicht nur einzelne Kriminelle unter Anklage zu stellen. Geboren in San Cipriano d’Aversa, hatte er den Machtaufstieg Bardellinos und Sando-kans aus nächster Nähe mitverfolgt. Die Fehden, die Massaker, die Geschäfte. Mehr als jeder andere kann er von dieser Macht erzählen, und die Clans fürchten sein Wissen und sein Gedächtnis. Sie fürchten, von einem Augenblick auf den ande- -ren könnte das Interesse der überregionalen Medien für die Macht der Casalesen geweckt werden. Sie fürchten, der Senator könnte in der Antimafia-Kommission die Verbrechen anprangern, die inzwischen von der Presse ignoriert oder als Vorko mmn isse in irgendeiner abgelegenen Provinz abgetan werden. Lorenzo Diana zählt zu jenen seltenen Menschen, die wissen, daß man eine Engelsgeduld braucht, will man die Camorra besiegen; daß man immer wieder neu anfangen muß, ganz von vorn; daß man aus dem Wirrwarr des wirtschaftlichen Geflechts die Fäden einzeln herauslösen- muß, um an den kriminellen Kern heranzukommen. Langsam, aber stetig, mit beharrlicher Wut, auch wenn die öffentliche Aufmerksamkeit nachläßt. Auch wenn alles sinnlos erscheint und die Hydra ihre vielen Köpfe zeigt und jeder Zugriff und Sieg unmöglich scheint.
Nach Prozeßende, als die Urteile verkündet waren, konnte es
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