Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra
Kronzeugen Luigi Diana, der einer Lokalzeitung zufolge ausgesagt hatte, Bidognetti sei für die erste Verhaftung Schiavones verantwortlich gewesen und habe den Carabinieri das Versteck des Bosses in Frankreich verraten. Die Geschütze wurden in Stellung gebracht, und die Carabinieri warteten nur darauf, die Leichen einzusammeln. Doch dann schaltete sich Sandokan selbst ein und meldete sich öffentlich zu Wort. Trotz strengster Haftbedingungen war es ihm gelungen, einer Lokalzeitung einen offenen Brief zukommen zu lassen, der am 21. September 2005 auf der ersten Seite abgedruckt wurde. Der Boss, ganz routinierter Manager, entschärfte den Konflikt, indem er die Behauptung des Kronzeugen dementierte. Nur wenige Stunden nachdem sich Diana zur Zusammenarbeit mit der Justiz bereit erklärt hatte, war übrigens einer seiner Angehörigen getötet worden.
»Die Information oder, besser gesagt, derjenige, der mich verraten und damit meine Verhaftung in Frankreich bewirkt hat, war Carmine Schiavone und nicht Cicciotto Bidognetti, wie zweifelsfrei feststeht. Die Wahrheit ist, daß jenes Individuum, das auf den Namen des Kronzeugen Luigi Diana hört, die Unwahrheit sagt und Zwietracht säen will, um persönliche Rechnungen zu begleichen.«
Darüber hinaus »empfiehlt« er dem Chefredakteur der Zeitung eine korrekte Berichterstattung:
»Ich mochte Sie bitten, sich von diesem Denunzianten nicht instrumentalisieren zu lassen, der gekauft ist, und nicht den Fehler zu begehen, aus Ihrer Nachrichtenzeitung ein Skandalblatt zu machen. Es würde unweigerlich an Glaubwürdigkeit verlieren wie eines Ihrer Konkurrenzblätter, dessen Abonnement ich nicht verlängert habe. Das werden auch viele andere tun; auch sie werden nicht langer eine Zeitung kaufen, die sich derart instrumentalisieren läßt.«
Mit seinem Brief diskreditierte Sandokan das Konkurrenzblatt und machte die von ihm favorisierte Zeitung offiziell zu seinem neuen Gesprächspartner.
»Ich möchte nicht die Tatsache kommentieren, daß Ihre Konkurrenz für gewöhnlich Lügen verbreitet. Meine Wenigkeit ist wie Quellwasser: klar bis auf den Grund!«
Mit anderen Worten: Sandokan forderte seine Leute auf, statt der alten die neue Zeitung zu kaufen. Daraufhin kamen aus Gefängnissen in ganz Italien Abonnementwünsche für die vom Boss auserkorene und Kündigungen für die von ihm kritisierte Zeitung. Der Brief, ein Friedensangebot für Bidognetti, schloß mit den Worten:
»Das Leben verlangt von jedem nur das, wozu er auch imstande ist. Von diesen sogenannten Kronzeugen hat das Leben verlangt, sich im Dreck zu suhlen. Wie die Schweine!«
Das Kartell der Casalesen war nicht besiegt, im Gegenteil. Es erstarkte nur noch mehr. Nach Ermittlungen der Antimafia-
Staatsanwaltschaft Neapel wird das Kartell gegenwärtig von einer Doppelspitze geführt, bestehend aus Antonio Iovine, genannt »‘o ninno« (der Knirps) oder »il poppante« (der Grünschnabel), weil er schon als Junge in die Führung des Clans aufgestiegen war, und Michele Zagaria, dem Managerboss von Casapesenna mit Spitznamen »capastorta« aufgrund seiner unregelmäßigen Gesichtszüge; heute nennt er sich offenbar »Manera«. Beide Bosse sind seit Jahren untergetaucht und stehen ganz oben auf der Fahndungsliste des Innenministeriums mit den gefährlichsten Verbrechern Italiens. Unauffindbar, obwohl sie mit Sicherheit in ihrem Heimatort leben. Kein Boss kann sich allzu lange von seiner Heimaterde entfernen, denn von hier bezieht er seine ganze Macht und hier beginnt sie auch zu bröckeln.
Nur wenige Quadratkilometer, kleine Ortschaften, schmale Gassen und einsame Gehöfte, und trotzdem ist es unmöglich, sie aufzuspüren. Aber sie sind da. Sie reisen in der Welt herum und kehren an ihren Herkunftsort zurück, wo sie sich die meiste Zeit des Jahres aufhalten. Jeder weiß das. Trotzdem werden sie nicht erwischt. Ihre Tarnung ist so perfekt, daß eine Verhaftung unmöglich scheint. Ihre Villen werden weiterhin von Verwandten und Familienangehörigen bewohnt. Antonio Iovines Villa in San Cipriano ähnelt einem kleinen Jugendstilpalast, die von Michele Zagaria, zwischen San Cipriano und Casapesenna gelegen, ist ein pompöser Komplex mit einer Glaskuppel als Dach, damit der riesige Baum, der mitten im Wohnzimmer wächst, genügend Licht bekommt. Die Fa mili e Zagaria besitzt Dutzende von Tochterfirmen in ganz Italien und ist nach Erkenntnissen der Antimafia-Staatsanwaltschaft Neapel italienweit das größte Unternehmen
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