Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra
kappten. In Wirklichkeit liegt jedoch die Stärke des kriminellen Unternehmertums in Italien gerade darin, stets zweigleisig zu fahren und den kriminellen Gelderwerb niemals aufzugeben. In Aberdeen nennen sie diese Praktik »Scratchen«. Wie die Rapper oder DJs die laufende Schallplatte auf dem Plattenspieler rhyt hmi sch hin und her bewegen, unterbrechen die camor-ristischen Unternehmer kurzzeitig den Kreislauf der legalen Wirtschaft. Sie unterbrechen ihn, scratchen, und setzen ihn dann erneut in Bewegung, noch schneller als zuvor.
Die Untersuchungsberichte der Antimafia-Staatsanwaltschaft Neapel zum Fall La Torre verdeutlichen, daß der Clan jedesmal, wenn die legalen Wirtschaftsaktivitäten in eine Krise gerieten, sofort auf die kriminelle Ebene umschwenkte: wenn man nicht flüssig war, ließ man Falschgeld drucken, wenn man kurzfristig viel Geld brauchte, verkaufte man gefälschte Staatsanleihen. Die Konkurrenz wurde durch Erpressung ausgeschaltet, die Ware importiert, ohne Einfuhrsteuern zu bezahlen. Den Kreislauf der legalen Wirtschaft zu scratchen garantierte den Kunden ein konstantes, nichtschizophrenes Preisniveau, ermöglichte eine fristgerechte Zahlung der Bankkredite und sorgte dafür, daß Geld und Konsumprodukte stetig zirkulierten. Scratchen machte die Grenze zwischen dem Gesetz und dem ökonomischen Imperativ durchlässig, zwischen dem, was das Gesetz verbot, und dem, was das Profitstreben verlangte.
Es war unvermeidlich, daß die La Torre bei ihren Geschäften im Ausland auch mit englischen Partnern zusammenarbeiteten, auf verschiedenen Ebenen. Einige wurden sogar in den Clan aufgenommen. Zu ihnen zählt Brandon Queen, mittlerweile in England inhaftiert, der aus Mondragone jeden Monat pünktlich sein Geld bezog, einschließlich eines dreizehnten Monatsgehalts. Im Haftbefehl vom Juni 2002 heißt es: »Brandon Queen wurde auf Augusto La Torres ausdrücklichen Wunsch auf die Gehaltsliste des Clans gesetzt.« Die Mitglieder erhalten üblicherweise nicht nur Personenschutz, sondern, falls notwendig, auch Geldzahlungen, Rechtsbeistand und Rückendeckung durch die Organisation. Damit der Boss ihm all diese Vergünstigungen zugestand, muß Queen im Geschäftsleben des Clans eine tragende Rolle gespielt haben. In der Verbrechensgeschichte Italiens und Großbritanniens gilt er als der erste Camorrist britischer Nationalität.
Ich hatte viel von Brandon Queen gehört, schon seit Jahren. Gesehen hatte ich ihn nie, ich kannte nicht mal ein Foto. Da ich nun einmal in Aberdeen war, mußte ich mich unbedingt nach dem Vertrauten Augusto La Torres und schottischen Camorristen erkundigen. Obwohl nichts und niemand ihn zwang und er einzig die Gesetze der Betriebswirtschaft und die Grammatik der Macht kannte, löste dieser Mann seine letzten noch vorhandenen Bindungen zu den uralten Highland-Clans und wurde ein Mitglied des Clans von Mondragone. Vor La Torres
Lokalen standen immer Gruppen von einhei mi schen Jugendlichen herum. Es waren keine träge gewordenen Gangster, die auf ihr Bier warteten oder auf die Gelegenheit zu einer Prügelei oder einem Handtaschenüberfall, sondern aufgeweckte Jungs, die auf verschiedenen Ebenen in die legalen wirtschaftlichen Aktivitäten des Clans eingebunden waren. Transport, Werbung, Marketing. Als ich nach Brandon fragte, wurde ich keineswegs mit feindseligen Blicken bedacht oder mit vagen Antworten abgespeist wie irgendwo im Hinterland von Neapel, wenn man sich nach einem Clanmitglied erkundigt. Alle schienen Brandon Queen zu kennen, aber ich glaube, er war inzwischen einfach nur zu einem Mythos geworden und sein Name in aller Munde. Queen hatte es geschafft. Er war kein einfacher Angestellter wie sie selbst, die sie in den Restaurants, Firmen, Läden und Immobilienagenturen des Clans arbeiteten und ein sicheres Einkommen bezogen. Brandon Queen war mehr. Er hatte den Traum vieler schottischer Jugendlicher verwirklicht: nicht einfach nur in legalen Subfirmen mitzuarbeiten, sondern Teil des Systems zu werden, ein operatives Element des Clans. Ein vollgültiges Mitglied der Camorra, trotz des Handikaps, in Schottland geboren zu sein, wo jeder glaubt, es gebe in der Wirtschaft nur einen einzigen Weg des Vorwärtskommens, einen Weg mit festen Regeln, Erfolgen und Mißerfolgen, wo die Preise allein vom Wettbewerb diktiert werden. Ich war beeindruckt, daß man mich mit meinem stark italienisch gefärbten Englisch nicht als Einwanderer abstempelte, nicht als ein klägliches Zerrbild des
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