Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra
hat einfach ein Defizit. In Mondragone dagegen mußtest du nur deinen Lebenslauf abgeben, dann schickte man dich irgendwohin nach England. In gewisser Weise zählte natürlich schon dein Talent, aber mehr noch kam es darauf an, wie du dich verkaufen konntest. Allerdings nur für eine Arbeit in London oder Aberdeen, nicht in Kompanien, dieser hintersten Provinz Europas.
Matteo, ein Freund von mir, faßte eines Tages den Entschluß, es zu wagen und für immer fortzugehen. Er hatte ein bißchen Geld beiseite gelegt, ein gutes Abschlußexamen geschafft und war es leid, sich mit Praktika und Jobs auf Baustellen durchs Leben zu schlagen. Er hatte den Namen eines Mannes aus Mondragone, der ihm helfen würde, den Sprung nach England zu schaffen; war er erst einmal im Land, würde er sich da und dort bewerben. Ich begleitete ihn. Stundenlang warteten wir an einer bestimmten Stelle in Strandnähe, wo wir verabredet waren. Es war Sommer. Die Strände von Mondragone sind überlaufen von Urlaubern aus ganz Kampanien, denen die amalfitanische Küste zu teuer ist und die sich die Miete für ein Sommerhaus am Meer nicht leisten können. Deshalb fahren sie zum Baden ans Meer und kehren abends ins Hinterland zurück. Bis Mitte der achtziger Jahre wurde Mozzarella-Käse in Holzkistchen und in kochend heißer Büffelmilch eingelegt verkauft. Die Strandbesucher aßen die tropfenden Mozzarella-Kugeln mit bloßen Händen, und bevor die Kinder in den weißen Käse bissen, leckten sie sich die salzigen Finger ab. Später wurde keine Mozzarella mehr verkauft, dafür Taralli-Teig-kringel und Kokosnußschnitze. Unser Kontaktmann kam zwei Stunden zu spät, braungebrannt und nur mit einer knappen Badehose bekleidet. Er habe viel zu spät gefrühstückt, sei viel zu spät schwimmen gegangen und habe sich viel zu spät abgetrocknet, rechtfertigte er sich. Die Sonne war also schuld. Unser Kontaktmann brachte uns zu einem Reisebüro. Das war alles. Wir hatten gedacht, er würde uns zu einem Vermittler bringen, aber er führte uns lediglich in ein Reisebüro, das nicht einmal sonderlich elegant war. Nirgendwo Kataloge und Broschüren, es war ein richtiges Kabuff. Aber hier würde man meinem Freund weiterhelfen. Käme ein Nichteingeweihter zur Tür herein, würde der ganz normale Betrieb eines ganz normalen Reisebüros laufen. Ein blutjunges Mädchen fragte Matteo nach seinem Lebenslauf und sagte uns, wann der nächste Flug ging. Man würde ihn nach Aberdeen schicken. Er bekam einen Zettel mit einer Liste von Firmen ausgehändigt, bei denen er sich um Arbeit bewerben konnte. Ja, das Reisebüro selbst würde für ein geringes Entgelt Gesprächstermine mit der Personalabteilung dieser Firmen vereinbaren. Nie war ein derart provisorisches Reisebüro dermaßen effizient. Zwei Tage später brachen wir auf, mit einem billigen Direktflug.
In Aberdeen war es wie zu Hause. Trotzdem konnte man sich keinen Ort vorstellen, der von Mondragone weiter entfernt gewesen wäre. Die drittgrößte Stadt Schottlands war düster und grau, auch wenn es nicht ganz so oft regnete wie in London. Bevor die italienischen Clans hierherkamen, wußte die Stadt ihre Freizeit- und Tourismuskapazitäten nicht besonders gut zu nutzen, Restaurants, Hotels und das soziale Leben waren auf die triste englische Art organisiert. Alles war wie überall auf der Insel, die Lokale brechend voll und ein Gedränge an der Theke - allerdings nur an einem einzigen Tag in der Woche. Nach Ermittlungen der Antimafia-Staatsanwaltschaft Neapel war es Antonio La Torre, Bruder des Bosses Augusto, der in Schottland eine Reihe von Geschäften gründete, die binnen weniger Jahre zu Musterbetrieben der schottischen Wirtschaft wurden. Der größte Teil der unternehmerischen Aktivitäten des La-Torre-Clans in England ist absolut legal: Kauf und Verwaltung von Immobilien, Handelsbetriebe, Import italienischer Lebensmittel. Der Umsatz ist gigantisch und in Zahlen schwer zu beziffern. Von Aberdeen erwartete sich Matteo die Anerkennung, die man ihm in Italien verweigerte. Wir schlenderten zufrieden durch die Straßen, als reichte unsere Herkunft aus Kampanien zum erstenmal im Leben aus, um ein erfolgreiches Betätigungsfeld zu finden. Union Terrace Nummer 27 und 29 lautete die Adresse eines Restaurants des Clans mit Namen Pavarotti’s. Es war auf Antonio La Torre eingetragen und wurde auch in Online-Reiseführern erwähnt. Das Pavarotti’s galt in der Stadt als schicker In-Treffpunkt, wo man ausgezeichnet essen
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