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Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra

Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra

Titel: Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Saviano
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hin und her schwankend spitze Schreie auszustoßen. Sobald das Familienoberhaupt zu weinen aufhört, verfallen die Frauen wieder in Schweigen. Weiter hinten entdecke ich die Bank mit den Mädchen, den Freundinnen, Cousinen und Nachbarinnen von Annalisa. Sie ahmen ihre Mütter nach, machen die gleichen Bewegungen, schütteln genauso den Kopf, wiederholen im Chor: »Das darf nicht sein, das ist unmöglich!« Sie fühlen sich in der wichtigen Rolle der Trösterinnen. Und darin kommt auch Stolz zum Vorschein. Die Beerdigung eines Opfers der Camorra ist für sie eine Initiation wie die erste Blutung oder der erste Geschlechtsverkehr. Wie ihre Mütter nehmen sie bei diesem Ereignis aktiv am Leben des Viertels teil. Fernsehkameras und Objektive sind auf sie gerichtet, alle scheinen nur für sie dazusein. Viele dieser Mädchen werden bald einen hoch- oder einen niedrigrangigen Camorristen heiraten. Dealer oder Unternehmer. Killer oder Buchhalter. Viele von ihnen werden ihre getöteten Söhne beweinen oder im Gefängnis von Poggioreale in der Warteschlange stehen, um ihren Ehemännern Nachrichten und Geld zu überbringen. Jetzt allerdings sind sie nichts anderes als schwarzgekleidete Mädchen, die nicht vergessen haben, möglichst tiefsitzende Hosen zu tragen und ihren Tanga herausschauen zu lassen. Sie sind bei einer Beerdigung, aber sorgfältig gekleidet. Perfekt. Sie weinen um eine Freundin, im Wissen, daß dieser Tod sie zu Frauen macht. Und trotz des Schmerzes können sie es kaum erwarten. Ich denke an die ewig wiederkehrenden Gesetzmäßigkeiten dieses Landes, denke daran, daß die Giuliano den Höhepunkt ihrer Macht erreicht hatten, als Annalisa noch nicht einmal geboren und ihre Mutter ein Mädchen war, das ihre Freundinnen besuchte, die dann die Männer der Giuliano und Mitglieder ihres Clans heirateten, als Erwachsene die Musik von D’Alessio hörten und Maradona anhimmelten, der mit den Giuliano Kokain und Partys teilte wie auf dem berühmten Foto, das den Fußballstar in der muschelförmigen Badewanne von Lovigino zeigt. Zwanzig Jahre später stirbt Annalisa, während ein Giuliano verfolgt und beschossen wird, und dieser beantwortet die Schüsse, benutzt Annalisa als Schutzschild oder kommt vielleicht nur an ihr vorbei. Der gleiche typische Ablauf, immer gleich. Unvergänglich, tragisch, ewig.
    Die Kirche ist längst überfüllt. Polizei und Carabinieri sind jedoch weiterhin nervös. Ich verstehe es nicht. Sie laufen hin und her, verlieren wegen jeder Kleinigkeit die Geduld, bewegen sich hektisch. Erst außerhalb der Kirche begreife ich. Einige Schritte von der Kirche entfernt trennt ein Auto der Carabinieri die Beerdigungsteilnehmer von einer Gruppe von aufgeputzten Personen, die mit teuren Motorrädern, Cabrios und PS-starken Rollern gekommen sind. Es sind die Mitglieder des Giuliano-Clans, die letzten Getreuen von Salvatore. Die Carabinieri fürchten, daß die Menge diese Camorristen beschimpft und daß daraus ein Handgemenge entstehen könnte. Zum Glück bleibt alles ruhig, aber ihre Anwesenheit ist zutiefst symbolisch. Ihr Auftritt beweist, daß in der Altstadt von Neapel niemand gegen ihren Willen oder zumindest ihre Vermittlung herrschen kann. Sie zeigen allen, daß sie noch da sind und nach wie vor das Sagen haben, trotz allem.
    Der weiße Sarg wird aus der Kirche getragen, die Menge drängt sich heran, um ihn zu berühren, viele werden ohnmächtig, wilde Schreie gellen in den Ohren. Als die Bahre am Haus von Annalisa vorbeikommt, versucht ihre Mutter, die es nicht über sich gebracht hat, an der Messe teilzunehmen, sich vom Balkon zu stürzen. Sie schreit, windet sich, ihr Gesicht ist geschwollen und rot. Eine Gruppe von Frauen hält sie zurück. Die übliche tragische Szene. Die rituelle Beweinung und die Schmerzensszenen sind sicherlich nicht fingiert. Ganz im Gegenteil. Sie beweisen jedoch, daß viele Frauen in Neapel nach wie vor in einer kulturellen Umgebung leben, die ihnen nur diese symbolischen Rituale bietet, um ihren Schmerz der ganzen Gemeinschaft mitzuteilen. Obwohl er wirklich ist, nimmt dieser frenetische Schmerz nach außen die Züge einer Inszenierung an.
    Die Presse hält sich auf Distanz. Der Gouverneur der Region Kampanien, Antonio Bassolino, und die Bürgermeisterin von Neapel, Rosa Russo Iervolino, fürchten, das Viertel könnte gegen sie rebellieren. Nichts geschieht, die Leute in Forcella haben gelernt, die Politik für sich zu nutzen und sich niemanden zum Feind zu machen. Einige

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