Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra
schon wie erfahrene Frauen. Sie schminken sich stark, pressen den Busen durch Push-ups zu prallen Rundungen heraus und tragen spitze Stiefel mit gefährlich hohen Absätzen. Sie müssen die Fähigkeiten von Seiltänzern entwik-keln, um damit auf den Basaltquadern der Straßen Neapels herumzustolzieren, die schon immer jeden Damenschuh ruiniert haben. Annalisa war hübsch, sehr hübsch. Mit ihrer Freundin und ihrer Cousine hörte sie Musik und wechselte Blicke mit den Jungen, die auf ihren Mopeds Hochstarts vorführten und mit quietschenden Reifen zwischen Autos und Menschen gefährliche Slaloms hinlegten. Das alte, immer gleiche Balzspiel. Die Mädchen in Forcella hören am liebsten die neuen Schlager von Sängern eines Labels, das vor allem hier in Neapel, aber auch in Palermo und Bari großen Erfolg hat. Gigi D’Alessio ist ihr absoluter Star. Ihm ist es gelungen, über Neapel hinaus in ganz Italien bekannt zu werden, die anderen dagegen, Hunderte andere, sind Idole einzelner Viertel geblieben, einzelner Häuserblocks, eines Hauses oder einer Gasse. Jeder hat seinen Lieblingssänger. Plötzlich aber, während aus dem Ghettoblaster krächzend ein schmelzender Akkord aufsteigt, verfolgen zwei Mopeds mit aufheulenden Motoren jemanden. Der flieht, so schnell er kann, zu Fuß. Annalisa, ihre Cousine und ihre Freundin wissen nicht, worum es geht, halten das Ganze für einen Scherz, eine Wette. Dann fallen Schüsse. Querschläger von allen Seiten. Annalisa liegt am Boden, sie ist von zwei Kugeln getroffen. Alle fliehen, die ersten Zeugen treten auf die Balkone, deren Türen immer offenstehen, damit man die Geräusche aus den Gassen verfolgen kann. Schreie, die Ambulanz, die Fahrt ins Krankenhaus, alle Leute im Viertel stürzen aus Neugier und Angst auf die Straße.
Salvatore Giuliano ist ein bedeutender Name. So zu heißen scheint auszureichen, damit man das Sagen hat. Aber hier in Forcella verleiht nicht die Erinnerung an den berühmten sizi-lianischen Banditen dem Träger dieses Namens Ansehen, sondern allein der Nachname. Giuliano. Die Lage ist schwieriger geworden, seit Lovigino Giuliano sich entschlossen hat, auszusagen. Er hat abgeschworen und seinen Clan verraten, um der Zuchthausstrafe zu entgehen. Doch wie in vielen Diktaturen auch dann, wenn der Führer ausgeschaltet ist, nur ein Mann aus den eigenen Reihen an seine Stelle treten kann, so auch hier. Auch wenn sie nun als Verräter gebrandmarkt sind, sind die Giuliano als einzige in der Lage, die Beziehungen zu den internationalen Drogenkurieren aufrechtzuerhalten und das Gesetz der Schutzgeldzahlungen zur Geltung zu bringen. Mit der Zeit aber hat Forcella es satt und will nicht mehr von einer Familie, in der es einen Verräter gibt, beherrscht werden, will keine Verhaftungen und keine Polizei mehr sehen. Wer an die Stelle der Giuliano treten will, muß den Erben aus dem Weg schaffen, sich für alle sichtbar zum neuen Souverän machen und die Giuliano in ihrem Thronfolger vernichten: Salvatore Giuliano, der Neffe von Lovigino. Der Abend ist bereits festgelegt, an dem die neue Herrschaft verkündet, der Kronprinz, der seine Ansprüche anmeldet, getötet und Forcella vom Beginn einer neuen Ära erfahren soll. Sie suchen ihn, machen ihn ausfindig. Salvatore geht ruhig die Straße entlang, merkt aber plötzlich, daß man ihm auflauert. Er flieht, die Killer verfolgen ihn, er rennt und will in irgendeine Gasse abbiegen. Es fallen die ersten Schüsse. Giuliano kommt wahrscheinlich an den drei Mädchen vorbei, benützt sie als Schutzschild, zieht die Pistole und schießt. Einige Sekunden, dann rennt er weg, die Kilier erwischen ihn nicht. Nur zwei der Mädchen können in den Toreingang flüchten. Sie drehen sich um, Annalisa fehlt. Sie gehen wieder hinaus. Dort liegt sie am Boden, überall Blut, ein Geschoß hat sie am Kopf getroffen.
In der Kirche gelingt es mir, mich bis an die Altartreppe vorzudrängen. Dort steht Annalisas Sarg. An allen vier Ecken wachen Polizisten in Paradeuniform, mit denen die Region Kampanien der Familie des Mädchens Ehre erweist. Der Sarg ist von weißen Blumen bedeckt. Ihr Handy wird am Fuß der Bahre niedergelegt. Annalisas Vater wehklagt, er ist erregt, stammelt etwas, tritt von einem Fuß auf den anderen und ballt die Fäuste in den Taschen. Er kommt auf mich zu, meint aber nicht mich, als er fragt: »Und jetzt? Und jetzt?« Sobald er in Tränen ausbricht, beginnen die Frauen der Fa mili e zu schreien, sich auf die Brust zu schlagen,
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