Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra
Valle di Lauro von einer riesigen Überschwemmung heimgesucht wurde, füllten sich die Häuser wie Schwämme mit Wasser und Schlamm, der Boden wurde ein brauner Morast, die Straßen unpassierbare Wasserläufe. Olga Santaniello ertrank in den Fluten. Die Brühe, die der Bürgermeisterin zum Verhängnis wurde, brachte den Clans in doppelter Weise Glück. Die Überschwemmung spülte noch mehr Geld in die Gegend, und damit wuchs die Macht der beiden Familien. Antonio Siniscalchi wurde ins Bürgermeisteramt gewählt und vier Jahre später mit überwältigender Mehrheit im Amt bestätigt. Nach dem ersten Wahlerfolg von Siniscalchi bildete sich vor dem Wahllokal eine Prozession, an der der Bürgermeister, die Gemeinderäte und seine wichtigsten Unterstützer teilnahmen. Sie führte in den Ortsteil Brosagro vor das Haus von Arturo Graziano, genannt »guaglione« (Bürschchen), doch sie galt nicht ihm. Die Ehrung durch den neuen Bürgermeister galt, nachdem Olga Santa-niello endgültig ausgeschaltet war, in erster Linie den Frauen, die sich dem Alter nach auf dem Balkon aufgereiht hatten. Im Juni 2002 wurde Antonio Siniscalchi von der Antimafia-Einheit verhaftet. Die Staatsanwaltschaft Neapel warf ihm vor, mit den ersten Hilfsgeldern nach der Überschwemmung den Bau der Zufahrtsstraße und der Umfassungsmauer für die stark befestigte Villa der Graziano finanziert zu haben.
Die über ganz Quindici verstreuten Villen, die Verstecke, die asphaltierten Privatstraßen und die Straßenlaternen waren ein Werk der Gemeinde, die mit öffentlichen Geldern den Graziano half, sich gegen Attentate und Anschläge abzusichern. Die Vertreter der beiden Familien lebten hinter unüberwindbaren Mauern und eisernen Toren, die Tag und Nacht von Fernsehkameras überwacht wurden.
Der Boss Biagio Cava wurde am Flughafen von Nizza verhaftet, als er gerade nach New York fliegen wollte. Nach seiner Festnahme ging die ganze Macht in die Hände seiner Tochter, seiner Frau und der anderen Frauen des Clans über. Nur die Frauen ließen sich im Ort sehen, sie waren nicht nur die geheimen Verwalterinnen, die denkenden Köpfe, sondern auch das offizielle Symbol der Familien, Gesicht und Auge ihrer Macht. Wenn sich die rivalisierenden Familien auf der Straße begegneten, tauschten sie vernichtende Blicke, hochmütige Augenaufschläge und übten das absurde Ritual, daß der verliert, der zuerst die Augen niederschlägt. Die Spannung im Ort erreichte ihren Höhepunkt, als die Frauen der Cava die Zeit für gekommen hielten, zu den Waffen zu greifen. Aus Unternehmerinnen mußten sie zu Killerinnen werden. Sie trainierten im Hausflur bei laut aufgedrehter Musik, um die Schüsse auf die Haselnußsäcke von ihren Latifundien zu übertönen. Während der Kommunalwahlen des Jahres 2002 saßen die Cava zum erstenmal bewaffnet in ihrem Audi 80. Maria Scibelli, Michelina Cava, die sechzehnjährige Clarissa und die neunzehnjährige Felicetta Cava. In der Via Cassese kreuzte der Wagen der Cava den der Graziano, in dem die zwanzigjährige Ste-fania und die ein Jahr ältere Chiara Graziano saßen. Aus dem Wagen der Cava fielen Schüsse, doch als hätten sie einen Anschlag geahnt, gelang es den Frauen der Graziano, scharf zu bremsen und das Steuer herumzureißen. Sie gaben Gas, wendeten und entkamen. Die Schüsse hatten das Fensterglas zersplittern lassen und das Blech durchlöchert, aber niemanden getroffen. Die beiden Mädchen kehrten weinend in die Villa zurück. Ihre Mutter, Anna Scibelli, und der Boss Luigi Salvator Graziano, der siebzigjährige Patriarch der Familie, beschlossen, diesen Affront auf der Stelle zu rächen. Gefolgt von einem gepanzerten Auto, in dem vier mit Maschinenpistolen und Gewehren bewaffnete Männer saßen, verließen sie in ihrem Auto die Villa. Als sie den Audi der Cava erreicht hatten, rammten sie ihn mehrmals. Gleichzeitig blockierte der Begleitwagen alle seitlichen Fluchtwege, überholte, bremste davor und versperrte so auch den Weg nach vorn. Weil sie eine Polizeikontrolle fürchteten, hatten sich die Frauen der Cava in der Zwischenzeit ihrer Waffen entledigt. Als das andere Auto vor ihnen hielt, rissen sie ihr eigenes herum, öffneten die Türen und stürzten heraus, um zu Fuß zu entkommen. Die Graziano stiegen aus, und schossen auf die Frauen. Ein Kugelhagel traf sie an Beinen, Kopf, Schultern, Brüsten, Wangen, Augen. Innerhalb weniger Sekunden hatten alle die Schuhe verloren, stolperten und blieben mit den Füßen in der Luft liegen.
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