Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra
applaudieren den Sicherheitskräften. Ein paar Journalisten finden das aufregend. Carabinieri, die im Herrschaftsgebiet der Camorra bejubelt werden. Wie naiv. Dieser Beifall sollte eine Provokation sein. Besser die Carabinieri als die Giuliano. Das ist gemeint. Einige Fernsehleute versuchen, Augenzeugenberichte aufzunehmen, und gehen auf eine alte, gebrechlich wirkende Frau zu. Sie reißt sofort das Mikrophon an sich und brüllt hinein: »Wegen denen da ... muß mein Sohn fünfzig Jahre ins Gefängnis! Mörder!« Aus ihr spricht der Haß gegen die Kronzeugen. Die Menge drängt, es herrscht Hochspannung. Bei dem Gedanken, daß ein Mädchen sterben mußte, weil sie an einem Frühlingsabend Musik hören wollte vor ihrem Haus, bekomme ich Bauchschmerzen. Mir ist schlecht. Ich muß ruhig bleiben. Muß mir klarmachen, wie so etwas möglich ist. Annalisa ist in dieser Welt geboren und aufgewachsen. Die Freundinnen erzählten ihr davon, wie die jungen Männer des Clans sie auf dem Motorrad entführten, vielleicht hätte auch sie selbst sich in einen hübschen reichen Jungen verliebt, der im System Karriere gemacht hätte, oder aber in einen braven Burschen, der für ein paar Euro den ganzen Tag schuftete. Ihr war vorbestimmt, in einer Fabrik in Schwarzarbeit Taschen zu fertigen, zehn Stunden täglich für fünfhundert Euro im Monat. Annalisa haßte den Stempel, den das Leder den Arbeiterinnen auf der Haut hinterließ, ihrem Tagebuch hatte sie anvertraut: »Die Mädchen, die mit den Taschen arbeiten, haben immer schwarze Hände, sie sind den ganzen Tag in der Fabrik eingeschlossen. Auch meine Schwester Manu, aber der Arbeitgeber zwingt sie wenigstens nicht, zu arbeiten, wenn sie krank ist.« Annalisa wurde zum tragischen Symbol, denn die Tragödie hat ihre schrecklichste Form angenommen: die Ermordung. Für die Menschen hier ist jedoch jeder Moment ihres Lebens wie eine
Strafe, die sie als rohe, immer gleiche, kurze und gewaltsame Existenz verbüßen. Annalisas Schuld bestand darin, in Neapel geboren zu sein. Nichts mehr und nichts weniger. Während Annalisas Leiche im weißen Sarg auf den Schultern weggetragen wird, läßt ihre Schulkameradin das Handy klingeln. Auf dem Sarg ertönt das neue Requiem. Ein anhaltendes Klingeln, die Andeutung einer süßen Melodie. Niemand antwortet.
Zweiter Teil
Kalaschnikow
Ich ließ die Finger darübergleiten, mit geschlossenen Augen. Die Kuppe meines Zeigefingers strich über die gesamte Fläche, von oben nach unten. An den Einschußstellen blieb der Fingernagel hängen. So tastete ich Scheibe für Scheibe ab. Manchmal paßte die ganze, manchmal die halbe Fingerkuppe in das Loch. Wo die Oberfläche glatt war, kam ich recht schnell voran. Wie ein sich schlängelnder Wurm glitt mein Finger über die Unebenheiten. Bis ich mich schnitt. Ein wäßriger, purpurroter Film blieb auf dem Glas zurück. Ich öffnete die Augen. Ein plötzlicher stechender Schmerz. Die Vertiefung im Glas füllte sich mit Blut. Ich hörte mit diesem idiotischen Spiel auf und sog an der Wunde.
Die Einschußlöcher einer Kalaschnikow sind kreisrund, wie gestanzt. Die Projektile fressen sich mit ganzer Wucht in die Panzerscheiben, höhlen sie aus wie nagende Holzwürmer, die anschließend wieder verschwinden. Von weitem sehen die Einschüsse eines Schnellfeuergewehrs eigenartig aus, wie lauter kleine Bläschen zwischen den gepanzerten Glasschichten. So gut wie kein Ladenbesitzer erneuert die Schaufensterscheibe, wenn sie mit einer Kalaschnikow beschossen wurde. Einige verschmieren die Löcher mit Silikon, andere behelfen sich mit schwarzem Klebeband, aber die meisten lassen alles so, wie es ist. Eine gepanzerte Scheibe kostet bis zu fünftausend Euro, da nutzt man dieses Dekor der Gewalteinwirkung lieber als Schaufenstersc hm uck. Womöglich lockt der Anblick Kunden an, die neugierig stehenbleiben, um zu erfahren, was passiert ist. Nach einem Schwätzchen mit dem Ladenbesitzer wird dann nicht selten mehr gekauft, als ursprünglich beabsichtigt. Statt die Scheibe zu ersetzen, wartet man mitunter auch darauf, daß sie im nächsten Kugelhagel zerspringt. Dann zahlt die Versicherung, denn wer rasch genug die Spuren verwischt, kann das Schnellfeuer als Raubüberfall deklarieren.
Hinter einem Schaufensterbeschuß steckt nicht unbedingt ein Einschüchterungsversuch, eine Botschaft in der Sprache von Gewehrkugeln. Bisweilen handelt es sich schlicht und einfach um eine waffentechnische Notwendigkeit. Neu gelieferte
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