Gomorrha: Reise in das Reich der Camorra
Anscheinend schossen die Graziano weiter auf die am Boden Liegenden, bemerkten aber nicht, daß eine von ihnen noch am Leben war. Felicetta Cava konnte sich retten. In der Tasche von einer der Cava-Frauen wurde eine Flasche Säure gefunden, vielleicht hatten sie vorgehabt, nicht mir zu schießen, sondern ihren Feindinnen auch noch Säure ins Gesicht zu schütten.
Die Frauen sind in höherem Maße befähigt, das Verbrechen nur als zeitlich und räumlich begrenzt zu betrachten, als Urteil anderer, als eine Stufe, die man nur berührt und dann hinter sich läßt. Das beweisen die Frauen der Clans mit großer Deutlichkeit. Sie fühlen sich beleidigt und verunglimpft, wenn sie als Camorristinnen und Verbrecherinnen bezeichnet werden. Als ob es sich dabei nur um ein subjektives Urteil, nicht um eine objektive Tat und Haltung handelte. Ein ungerechtfertigter Vorwurf. Bis heute hat sich im Gegensatz zu den Männern kein einziger weiblicher Boss der Camorra als Kronzeugin zur Verfügung gestellt. Noch nie.
Erminia Giuliano, wegen ihrer Augenfarbe Celeste (Himmelblau) genannt, hat stets mit aller Gewalt das Eigentum ihrer Familie verteidigt. Die auffallende Schönheit ist die Schwester von Carmine und Luigi, den Bossen von Forcella, und nach den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft allein verantwortlich für den Immobilienbesitz und die Handelsinvestitionen des Clans. Celeste wirkt wie eine typische Neapolitanerin, die guappa (Camorristin) aus der Altstadt: sie trägt ihre Haare platinblond gefärbt, die hellen, eiskalten Augen sind stets mit tiefschwarzem Lidschatten umrandet. 2004 wurden in den Unternehmen der Giuliano insgesamt achtundzwanzig Millionen Euro beschlagnahmt, die wirtschaftliche Basis der Macht des Clans. Die Giuliano besaßen eine Kette von Geschäften in und um Neapel und eine Firma, deren Markenname dank des unternehmerischen Geschicks und des militärischen und wirtschaftlichen Schutzes durch den Clan sehr bekannt geworden war und über ein Netz von sechsundfünfzig Franchising-Geschäften in Italien, Tokio, Bukarest, Lissabon und Tunis verfügte.
Der in den achtziger und neunziger Jahren mächtige Clan der Giuliano war mitten in Neapel, in Forcella, entstanden, einem Viertel, das alle Mythen einer Kasbah und des verkommenen Nabels der Altstadt verkörpert. Die Giuliano scheinen ans Ziel gelangt zu sein nach einem langsamen Aufstieg aus dem Elend: vom Schmuggel über Prostitution, von der Schutzgelderpressung von Tür zu Tür bis hin zu Raubüberfällen. Ihre riesige Dynastie stützt sich auf Cousins, Neffen, Onkel und entferntere Verwandte. Den Gipfel ihrer Macht hatten sie bereits Ende der achtziger Jahre erreicht und genießen nach wie vor ungebrochenes Ansehen. Auch heute muß jeder, der in der Altstadt etwas zu sagen haben will, mit den Giuliano rechnen. Dem Clan sitzt noch die Erinnerung an die Armut und die Angst, wieder dahin zurückzukehren, im Nacken. Eine der Äußerungen von Luigi Giuliano, dem König von Forcella, die seine Abscheu vor der Armut besonders deutlich macht, hat der Journalist Enzo Perez aufgeschrieben. In Anspielung auf eine Figur aus einer Komödie Edoardo de Filippes hatte Giuliano erklärt: »Ich bin anderer Meinung als Tommasino, ich mag die Krippe, aber die Schäfer hasse ich!«
Das Gesicht der Camorra und der absoluten Macht ihres Systems trägt immer häufiger weibliche Züge, doch auch die Menschen, die im Räderwerk dieses Systems zugrunde gehen, sind vor allem Frauen. Die vierzehnjährige Annalisa Durante starb am 27. März 2004, weil sie in einen Schußwechsel geraten war. Vierzehn Jahre. Vierzehn Jahre. Dabei läuft es einem eiskalt den Rücken herunter. Ich ging zur Beerdigung von Annalisa Durante und kam schon früh zur Kirche von Forcella. Die Blumen waren noch nicht gebracht worden, überall hingen Todesanzeigen, Beileids- und Trauerbekundungen, ergreifende Erinnerungen ihrer Klassenkameradinnen. Annalisa ist ermordet worden. Den warmen Abend, den vielleicht ersten wirklich warmen Abend dieses schrecklich verregneten Frühjahrs wollte sie vor dem Haus einer Freundin verbringen. Sie trug ein hübsches Kleid, das ihr gut stand und eng an ihrem straffen, schon gebräunten Körper anlag. Diese Abende sind wie gemacht dafür, Jungs zu treffen, und vierzehn Jahre ist für die Mädchen von Forcella das richtige Alter, um sich einen Freund zu suchen und ihn dann in Richtung Ehe zu bugsieren. Die Mädchen aus der Unterschicht hier in der Altstadt wirken mit Vierzehn
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