Gondeln aus Glas
alle zwei Tage ein nächtliches Geschäftsessen? Nein, entschied sie, natürlich nicht.
Während ihr bestiefelter Fuß unwillkürlich im Takt des Marsches auf die Steinplatten unter ihrem Tisch stampfte, gelangte Signora Leinsdorf zu der Überzeugung, dass Direktor Sockenhalter jemanden aufgegabelt hatte.
Als sie ihre Augen wieder öffnete, war der Blick auf den Spanier durch die Rückenansicht eines Herrn versperrt, der sich leicht über den Tisch des Spaniers gebeugt hatte und in einer unbekannten Sprache auf ihn einredete. Sie verstand kein Wort von dem, was der erregte Mann sagte, aber sie sah, wie sich die Züge des Spaniers mit jedem Satz verhärteten und verdüsterten. Als der Mann seine Rede beendet hatte, schüttelte der Spanier den Kopf und lachte höhnisch auf. Worauf der Mann, der ihr immer noch den Rücken zugekehrt hatte, einen zusammengefalteten Bogen Papier aus der Tasche seines Gehrockes zog, ihn auseinander faltete und auf den Tisch warf. Er sprach laut und erregt weiter auf den Spanier ein, und Signora Leinsdorf begriff, dass es um die Anerkennung einer Ehrenschuld ging – der Spanier sollte einen Schuldschein unterschreiben. Plötzlich zog der erregte Mann einen metallischen Gegenstand unter seinem Gehrock hervor, der kurz im Sonnenlicht aufblitzte. Der Gegenstand kam Signora Leinsdorf sehr groß vor, und es dauerte ein paar Sekunden, bis sie ihn als Schusswaffe identifizierte. Und nun ging alles sehr schnell – so schnell, dass sie Mühe hatte, den Ereignissen zu folgen. Der Spanier – sie hatte unwillkürlich für ihn Partei ergriffen – war aufgesprungen und starrte den Mann mit weit aufgerissenen Augen an. Dann sah sie, wie etwas von der linken Seite her in ihr Blickfeld schoss und mit einem dumpfen Geräusch auf den Arm des Mannes traf. Die Waffe fiel polternd auf das Pflaster, und der kroatische Leutnant, dessen Säbel dem Mann die Waffe aus der Hand geschlagen hatte, stieß den Burschen auf den Tisch hinab, wobei zwei Kaffeekännchen, zwei Kuchenteller und zwei Kaffeetassen zu Bruch gingen. Mit dem Auftauchen zweier uniformierter Polizisten war der Spuk dann so schnell beendet, wie er begonnen hatte. Sie drehten dem Mann die Arme auf den Rücken, führten ihn zügig ab, und der Spanier folgte ihnen. Signora Leinsdorf verstand, dass es nicht im Sinne der öffentlichen Ordnung war, den Zwischenfall an Ort und Stelle zu klären. Und da kein Schuss gefallen war und die ganze merkwürdige Episode nach höchstens drei Minuten beendet worden war, hatte die Militärkapelle weitergespielt.
Vermutlich, dachte Signora Leinsdorf, hätten die Musiker auch dann weitergespielt, wenn es zu einer Schießerei gekommen wäre. Schließlich handelte es sich um eine Militärkapelle. Sie winkte dem Kellner, um ein weiteres Mokka-Parfait, ein Kännchen Kaffee und noch einen doppelten Cognac zu bestellen – den hatte sie sich wahrlich verdient.
Beim Bezahlen der Rechnung sah sie davon ab,
dem Kellner bei den einzelnen Rechnungsposten behilflich zu sein. Stattdessen gab sie ihm ein groß zügiges Trinkgeld. Die Militärkapelle spielte jetzt die beliebte Donaupolka, und Signora Leinsdorf, die soeben zum Klang der Polka eine Gondel in ihrer Handtasche verstaut hatte, fand, dass sie einen äußerst unterhaltsamen Nachmittag verbracht hatte.
38
Sergente Valli stand ein paar Schritte vor der Polizeiwache, die im Erdgeschoss des Torre dell’Orologio untergebracht war, und sah zu, wie die beiden uniformierten Polizisten mit dem Mann, den sie vor einer knappen Stunde im Quadri verhaftet hatten, in der Menge verschwanden. Als er sich umdrehte, um sich wieder in die Wache zu begeben – ein dunkles Loch, aber im Sommer herrlich kühl –, fielen seine Beine unwillkürlich in den Takt des Linzer Füsiliermarsches, den die Militärkapelle gerade angestimmt hatte. Das passierte Sergente Valli immer wieder, und er hasste sich dafür.
Er hatte den beiden eingeschärft, sich die Überstellung der verhafteten Person schriftlich bestätigen zu lassen. Selbstverständlich gab es für die Überstellung eines Verhafteten in die Questura ein entsprechendes Formular. Er selber hatte, nachdem er bereits das Formular 7634/15 zur Hälfte ausgefüllt hatte, seinen Irrtum bemerkt und dann das Formular 7634/14 benutzt. Die Endziffer 15 war für politische Fälle vorgesehen, aber Sergente Valli bezweifelte, dass es sich hierbei um einen politischen Fall handelte. Was genau für ein Fall vorlag, wusste er nicht, aber darum konnten
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