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Gondeln aus Glas

Gondeln aus Glas

Titel: Gondeln aus Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicolas Remin
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Suite im Danieli betrat, bis auf Unterhose, Unterhemd und Socken zu entkleiden – eine Widerwärtigkeit, die noch durch den Anblick seiner fleischfarbenen Sockenhalter verstärkt wurde. Signora Leinsdorf ertappte sich immer öfter bei der Vorstellung, ihm seine fleischfarbenen Sockenhalter über den Kopf zu werfen und so lange zuzudrehen, bis …
    Die wieder einsetzende Musik der Militärkapelle riss Signora Leinsdorf aus diesen Gedankengängen, und als sie die Augen aufschlug und ihren inzwischen etwas glasigen Blick über die Piazza schweifen ließ, glaubte sie einen Moment lang, Direktor Leinsdorf in der Menge zu sehen – an der Seite einer jungen Frau. Doch als der Herr und die Dame sich näherten, erkannte sie, dass es sich um einen Einheimischen handelte und die Frau an seiner Seite seine Mutter hätte sein können – Direktor Leinsdorf wäre auch kaum so unvorsichtig gewesen, die Piazza am helllichten Tage mit einer seiner Bekanntschaften zu überqueren.
    Aber wäre sie wirklich eifersüchtig gewesen, wenn sich herausgestellt hätte, dass Direktor Leinsdorf eine Bekanntschaft pflegte? Signora Leinsdorf schüttelte energisch den Kopf und geriet in Versuchung – die beiden Doppelten hatten sie träge und schwungvoll zugleich gemacht –, das Resultat ihres Nachdenkens mit einem kräftigen Schlag ihrer flachen Hand auf die Tischfläche zu bekräftigen. Nein, natürlich nicht.
    Denn ihr Bedürfnis nach galanter Aufwartung durch Direktor Leinsdorf hielt sich in Grenzen, hatte sich bereits von dem Zeitpunkt an in Grenzen gehalten, an dem Leinsdorf seine Uniform mit einem Gehrock vertauscht hatte. Aber wenn es das nicht war – was war es dann, das sie veranlasste, sich als Betrogene zu fühlen?
    Signora Leinsdorf kam zu dem Schluss, dass ihr Gatte das Geld nicht wert war, das man für ihn ausgegeben hatte – das war der Betrug. Sie war auf eine überteuerte Mogelpackung hereingefallen, auf eine bunte Karnevalsuniform, hinter der sich ein Mann mit fleischfarbenen Sockenhaltern verbarg. Dass Direktor Leinsdorf sich als ein dumpfer Schürzenjäger erwiesen hatte, konnte man ihm notfalls durchgehen lassen – allerdings war hier der Punkt, an dem sie ansetzen konnte. Es würde ihr, dachte Signora Leinsdorf grimmig, eine nicht unbeträchtliche Genugtuung verschaffen, einen Beweis dafür in den Händen zu halten – und ihn zu Hause in Wien ihrem Vater zu präsentieren. Und wenn es etwas gab, das Direktor Leinsdorf fürchtete, dann das.
    Sie streckte die Hand nach dem Cognac aus und stellte fest, dass sie ihr Glas bereits geleert hatte. Worauf sie, obwohl ihre Rechnung bezahlt war und sie eigentlich hatte gehen wollen, den Kellner an ihren Tisch winkte und noch einen Doppelten bestellte.
    Der Kellner, der wohl daran dachte, wie freundlich sie ihm beim Bezahlen der Rechnung geholfen hatte, lächelte ihr höflich zu, und sie erwiderte sein Lä cheln.
    Als der Cognac kam, trank sie ihn zur Hälfte aus und ließ ihren Oberkörper in den Schatten des Sonnenschirms sacken – von kontrolliertem Nach-vorne-Beugen konnte inzwischen nicht mehr die Rede sein. Am Nebentisch war jetzt eine Wachablö sung zu bewundern: zwei Grazer Pionierleutnants übergaben den Tisch an einen Mann, den sie sofort als Spanier identifizierte – sie erkannte das an der stolzen Art, wie er die Kaffeekännchen der Pionierleutnants zur Seite schob, um Platz für seine Zeitung zu schaffen. Diese Bewegung hatte etwas Brutales, aber zugleich etwas Kraftvoll-Männliches, das ihr zusagte.
    Ob der gut aussehende Caballero auch fleischfarbene Sockenhalter trug? Nein, wahrscheinlich nicht. Signora Leinsdorf unterdrückte den Impuls, ihm zuzuprosten, was ohnehin folgenlos geblieben wäre. Seine Augen hatten sie kurz gestreift, aber ihr war klar, dass sie nicht zu den Frauen gehörte, an denen die Blicke der Männer hängen blieben.
    Sie kippte den Rest ihres Cognacs, schloss die Lider und lauschte einen Moment lang dem Marsch Leb wohl, kleiner Husar, den die Militärkapelle gerade zum Besten gab. Dann musste sie sofort wieder an Direktor Leinsdorf denken – Direktor Sockenhalter.
    Was trieb der eigentlich hier in Venedig? Sie wusste nur, dass er wegen der Finanzierung einer neuen Eisenbahnstrecke eine Reihe von Terminen hatte, die Venedig (oder war es Padua?) mit Ferrara verbinden sollte. Und dass er sich zweimal mit einer obskuren italienischen Fürstin getroffen hatte, die Geld für eine Weberei (oder eine Glasfabrik?) brauchte – aber ergab sich daraus

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