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Gondeln aus Glas

Gondeln aus Glas

Titel: Gondeln aus Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicolas Remin
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Wind keine frische Meeresluft mehr über die Lagune zu wehen, sondern die Stadt mit einem fauligen Verwesungsgeruch zu überziehen. Auf dem Campo della Carità blieb Tron stehen und legte den Kopf in den Nacken. Nein – das war keine Himmelsflur, eingelegt mit Scheiben lichten Goldes, auf die er blickte, sondern eine schwarze, stickige Glocke, was nur bedeuten konnte, dass sich eine dichte Wolkendecke zwischen Mond und Sterne geschoben hatte. Die Wolken selbst konnte Tron nicht sehen.
    Aber er stellte sich vor, wie sie sich tief und Unheil verkündend über der Stadt ballten.

16
    Die Absätze seiner Stiefel hatte er mit zwei weichen Lappen umwickelt – ein simpler Trick, den er in einem Roman gelesen hatte –, sodass er sich fast lautlos auf dem Pflaster bewegen konnte. Sein schwarzer Radmantel war vielleicht ein bisschen zu warm, aber er machte ihn praktisch unsichtbar. Jedenfalls war der Mantel groß genug, um das Gemälde darin einzuschlagen, falls das Gewitter, das immer noch unentschieden über der östlichen Lagune verharrte, über die Stadt zog und sich in einem kräftigen Regenguss entlud. Die Waffe, die er mit sich führte, war nicht geladen – er hatte bewusst darauf verzichtet, Munition einzustecken. Schusswaffen machten einen Höllenlärm, schreckten die Anwohner aus dem Schlaf und waren letztlich primitiv, etwas für Stümper.
    Aber wenn es zu einer Konfrontation kam, konnte es hilfreich sein, den Lauf der Waffe auf jemanden zu richten und den Hahn einrasten zu lassen.
    Es schlug zwölf, als er die Fondamenta degli Incurabili erreichte. Der Wind, gegen den die engen Gassen von Dorsoduro ihm Schutz geboten hatten, traf ihn jetzt mit voller Kraft und wehte Gischt und salzige Meeresluft über den Giudecca-Kanal. Viel konnte er nicht sehen, aber er hörte, wie sich die Schiffsrümpfe knarrend an den Pfählen rieben, an denen sie festgemacht waren. Ein wenig Restlicht hatte sich am Himmel gehalten, die schwankenden Masten der Segelschiffe hoben sich davon ab wie die Bäume eines Gespensterwaldes.
    Die Karenina – eingezwängt zwischen zwei plumpen Lastseglern, doch trotz der Dunkelheit leicht zu identifizieren – war achtern am Kai vertäut. Es war kein Problem für ihn, an Bord zu gelangen. An Deck tastete er sich vorsichtig an der Reling entlang, immer darauf gefasst, über irgendetwas, das auf den Planken lag, zu stolpern. Als er das Ruderhaus passiert hatte, sah er das Licht. Es kam aus einem der Bullaugen der Hauptkajüte – ein fahles Irrlicht, das sich im trägen Gieren des Schiffsrumpfes hob und wieder senkte. Am Kajüthaus, das sich hüfthoch über das Deck erhob, blieb er stehen. Dann ging er in die Knie und schob langsam seinen Kopf vor das Bullauge.
    Was er sah, überraschte ihn nicht. Der Großfürst  – nur sein Schatten war zu erkennen – stand in leicht nach vorne gebeugter Haltung über dem Kajüttisch.
    Das Licht der Blendlaterne in seiner Hand fiel auf einen Gegenstand, in dessen Anblick er regelrecht versunken schien. Was Troubetzkoy betrachtete, war unschwer zu erraten – es konnte sich nur um den Tizian handeln.
    Vorsichtig stand er wieder auf und registrierte befriedigt, dass sein Puls, der sich beim Anblick des Großfürsten beschleunigt hatte, schnell wieder in seinen normalen Takt zurückgefallen war. Vielleicht, dachte er, war er deshalb so ruhig, weil er damit gerechnet hatte. Es würde auch alles nicht länger als fünf Minuten dauern – falls er keine törichten Fehler beging.
    Auf den Stufen des Niedergangs, der in die Kajüte führte, streifte er die Strumpfmaske über sein Gesicht. Dann zog er seinen Revolver und versetzte der Kajüttür einen kräftigen Fußtritt, sodass sie krachend aufsprang. Troubetzkoy – zu Tode erschreckt – würde ein Dutzend Atemzüge lang nicht in der Lage sein, klar zu denken, geschweige denn, sich zu wehren. Er würde also ausreichend Zeit haben, sich das Gemälde zu schnappen und damit zu verschwinden.
    Seine Netzhaut brauchte eine knappe Sekunde,
    um zu registrieren, dass Troubetzkoy nicht mehr vor dem Kajüttisch stand, sein Gehirn ein wenig länger.
    Er riss den Revolver in Brusthöhe, die linke Hand umklammerte das Handgelenk der Waffenhand.
    Kopf, Körper und Arme drehten sich wie ein Turm.
    Doch das Einzige, was er in der Dunkelheit der Kajüte erkennen konnte, war der Tizian auf dem Kajüttisch, im Schein der Blendlaterne, die Troubetzkoy eben noch in der Hand gehalten hatte.
    Als er dicht hinter sich eine Bewegung spürte,

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