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Gondeln aus Glas

Gondeln aus Glas

Titel: Gondeln aus Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicolas Remin
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Sie weitergekommen?» Die Miene des Polizeipräsidenten machte kein Hehl daraus, dass er dieses Thema für wichtiger hielt als ein paar öde Morde. «Haben Sie das Material, das ich Ihnen diktiert hatte, bereits verarbeitet?»
    Großer Gott, die Novelle. Tron überkam es siedend heiß. Natürlich war er nicht weitergekommen.
    Er hatte in den letzten beiden Tagen noch nicht einmal daran gedacht. Aber es wäre unklug, Spaur zu enttäuschen. Tron räusperte sich. «Selbstverständlich habe ich das, Herr Baron.»
    «Und was ist Ihnen noch eingefallen?»
    War ihm noch etwas eingefallen? Nein – wie  denn auch? Jetzt fiel ihm noch nicht einmal ein, wovon diese Novelle überhaupt handelte. Ach, richtig.

    Von einem älteren Schriftsteller, der sich in einen jungen Polen – äh, nein – in eine junge Polin verliebt. O Gott, war das alles abgedroschen.
    «Vielleicht, haben Sie ja inzwischen darüber nachgedacht», fuhr Spaur lebhaft fort, «wo dieser Schriftsteller in den besten Jahren –», der Polizeipräsident warf selbstgefällig den Kopf zurück und strich sich über seine gefärbten Haare, «– die junge Dame zum ersten Mal sieht?» Er beugte sich erwartungsvoll über den Tisch und sah Tron gespannt an.
    Nein, das hatte Tron auch nicht. Aber er hielt die Frage nach dem Ort der ersten Begegnung für mäßig kompliziert. Wo also hatte der Schriftsteller die Polin zum ersten Mal gesehen? Tron musste ein Gähnen unterdrücken. Vielleicht auf einem Lloyddampfer?
    Oder auf einem Bahnsteig? Oder eher auf einem Traghetto? Und da er sich nicht entscheiden konnte und auch keine Lust hatte, länger darüber nachzudenken – denn im Grunde war es völlig egal –, sagte er einfach: «Der Schriftsteller sieht sie zum ersten Mal im Hotel.»
    Spaur riss erstaunt die Augen auf. «Der Schriftsteller in den besten Jahren und die junge Polin sind im gleichen Hotel abgestiegen?» Seine entzückte Miene besagte, dass er das für einen äußerst raffinierten Einfall hielt.
    Tron nickte. «Die junge Polin zusammen mit ihrer Familie und der Schriftsteller allein.» Er dachte kurz nach.
    «Der Schriftsteller erblickt sie zum ersten Mal in der Halle des Hotels. Sie sitzt mit ihrer Familie am Nebentisch.»
    «Und wie sieht die junge Dame aus?» Der Blick, den Spaur bei dieser Frage auf die Fotografie von Signorina Violetta warf, sprach Bände.
    Tron versuchte, sich daran zu erinnern, wie Signorina Violetta aussah. Hatte sie dunkle Haare? War sie blond? Er wusste es nicht, und es blieb ihm nicht anderes übrig, als zu raten.
    «Sie ist blond», sagte Tron. Ein freudiger Ausdruck huschte über Spaurs Gesicht – Volltreffer.
    «Sie hat», fuhr Tron lebhaft fort, «honigfarbenes Haar, und ihr Antlitz …» Er hielt inne, um zu überlegen, bevor er weitersprach. Jetzt würde es unklug sein, ins Detail zu gehen. «Ihr Antlitz», sagte er feierlich, «erinnert an griechische Bildwerke aus edelster Zeit.»
    Oder konnte man es nun wirklich nicht ausdrü cken, aber Spaur nickte befriedigt – mit Kennermiene. Dann legte er den Kopf in den Nacken und  schloss die Augen. Offenbar versuchte er, sich die Szene vorzustellen. «Und wie ist die junge Dame gekleidet, als der Schriftsteller sie zum ersten Mal sieht?» Tron hatte den Eindruck, dass Spaur etwas Außergewöhnliches erwartete.
    «Sie trägt», sagte Tron, «kein Promenadenkleid, denn sie ist noch sehr jung.» Ja, das war gut. Das würde der Geschichte einen Einschlag ins Pikante geben, den Spaur bestimmt zu schätzen wusste. Der hatte bereits erwartungsvoll die Augen geöffnet, auch sein Mund stand ein wenig offen.

    «Stattdessen trägt sie», führte Tron weiter aus, «ein schlichtes blaues Kleid mit einem weißen Kragen.»
    Sein Blick fiel auf den Stahlstich über der Ottomane, auf dem ein Segelschiff abgebildet war. «So eine Art Matrosenkleid.» Gab es das überhaupt? Ein Matrosenkleid? Eigentlich, dachte Tron, müsste es ja Matrosinnenkleid heißen.
    Dem Polizeipräsidenten jedenfalls schien diese Vorstellung zu gefallen. «Eine junge Matrosin ?» Er griff nach dem Glas mit dem Barolo und fuhr sich genüsslich mit der Zunge über die Lippen, so als wä re die polnische Matrosin ein Beuscherl oder ein Haggis. Tron fragte sich allmählich, was für eine Art von Geschichte Spaur von ihm erwartete.
    «Dies ist», sagte Spaur nach längerem Nachsinnen,  «ein Motiv, das Sie noch näher ausführen sollten.» Es blieb einigermaßen unklar, um welches Motiv es sich dabei handeln

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