Gondeln aus Glas
Kostolany kassiert hatte, blieb rätselhaft. Und ohne den geringsten Anhaltspunkt zu haben, war die Suche nach dem Tizian irgendwo hier in Venedig völlig aussichtslos.
Als Tron auf die Piazza trat, war es kurz vor zwölf, und er ertappte sich dabei, wie er unwillkürlich auf das Schlagen der nona wartete, derjenigen der fünf Glocken des Campanile, die in den Zeiten der Republik die Mittagsstunde eingeläutet hatte, so wie die malefico eine Hinrichtung angekündigt hatte und die trottiera eine Sitzung des Großen Rates. Absurd eigentlich, dachte Tron, denn der Republik hatte lange vor seiner Geburt Napoleon den Garaus gemacht, und er konnte unmöglich persönliche Erinnerungen an diese Glocken haben.
Jetzt, wo die brütende Mittagshitze die Einheimischen und die Fremden ins Innere der Häuser getrieben hatte, war der Markusplatz fast menschenleer, und ohne die Uniformen der kaiserlichen Offiziere, die modischen Promenadenkleider der Damen und die allgegenwärtigen Fotografen sah die Piazza San Marco einen Augenblick lang so aus, wie sein Urgroßvater sie gesehen haben mochte – Andrea Tron, Prokurator von San Marco, der 1775 Kaiser Joseph II. empfangen hatte und aus den mit ihm geführten Gesprächen den bitteren Schluss gezogen hatte, dass das Haus Habsburg alles tun würde, um sich Venedig und seine Gebiete anzueignen – und dass es ihm am Ende auch gelingen würde.
Als Tron eine halbe Stunde später Spaurs Büro in der Questura betrat, saß der Polizeipräsident hinter seinem Schreibtisch und stopfte sich ein Marzipanherz in den Mund – eine Beschäftigung, mit der er offenbar den Großteil des Vormittages verbracht hatte, denn Aberdutzende von kleinen rosafarbenen Einwickelpapieren bedeckten die Akten, die auf seinem Schreibtisch lagen wie Blütenblätter, und ergossen sich kaskadengleich auf den Fußboden. Durch die Dreipassfenster von Spaurs Büro fielen Rauten von Licht auf den Fußboden, warfen leuchtende Muster auf den Schreibtisch und den mauvefarbenen Sommeranzug des Polizeipräsidenten. Eigentlich war dies ein Bild sommerlicher Heiterkeit, doch Tron stellte erschrocken fest, dass der Polizeipräsident den Anblick eines Mannes bot, dem ein tragischer Schicksalsschlag soeben Hab und Gut geraubt hatte. Sein Atem ging schwer, das Gesicht war bleich, und sein farbenfrohes Halstuch hing halbmastmäßig über seine Revers.
Nachdem Tron Platz genommen hatte, kam Spaur ohne Umschweife zur Sache. «Erinnern Sie sich an den Studenten, der Signorina Violetta im letzten Jahr belästigt hat?»
Tron beugte sich auf seinem Stuhl nach vorne.
«Ihr angeblicher Vetter? Der junge Mann aus Padua?»
Spaur nickte. «Wir scheinen es jetzt», fuhr er fort,
«mit einer ähnlichen Situation zu tun zu haben.» Der Polizeipräsident machte eine Pause, um sich ein weiteres Marzipanherz in den Mund zu stopfen. Dann sagte er mit leicht undeutlicher Aussprache: «Nur dass es sich diesmal nicht um einen Studenten, sondern um einen wohl situierten Herrn handelt.»
Einen kurzen Augenblick hatte Tron die grauenhafte Vision, dass es sich bei dem wohl situierten Herrn um Potocki handeln könnte. Er räusperte sich. «Einen wohl situierten Herrn?»
Spaur hatte sein Kinn gehoben, aber er sah Tron nicht an. Seine Aufmerksamkeit schien sich auf die leere Luft rings um Trons Schultern zu konzentrieren. «Der Bursche», sagte Spaur schließlich mit tonloser Stimme, «hat Signorina Violetta einen Heiratsantrag gemacht.»
«Einen Heiratsantrag ?»
Spaurs Gesicht hatte plötzlich einen Ausdruck, wie Medea ihn bei Jasons Rückkehr gehabt haben mochte. «Sie brauchen nicht alles, was ich sage, zu wiederholen, Commissario.» Sicherheitshalber tat er es selber. «Ein wohl situierter Herr hat Signorina Violetta einen Heiratsantrag gemacht.»
Das musste Tron erst mal verarbeiten. Und vermutlich, dachte er, hatte Spaur diese Nachricht heute Morgen erhalten und war ebenfalls noch damit beschäftigt, sie zu verarbeiten.
«Hat Signorina Violetta diesen Heiratsantrag kommentiert?»
Ein weiteres Marzipanherz verschwand in Spaurs Mund. Tron schätzte, dass sich Spaur die Marzipanherzen inzwischen im Dreißig-Sekunden-Takt in den Mund stopfte.
Spaur sagte: «Dass sie mich liebt, aber an ihre Zukunft denken muss.»
«Über diesen Herrn hat sie sich nicht näher geäu ßert?»
«Nur, dass er sich ihr mit einer gewissen Courtoisie genähert hat und ernsthafte Absichten hegt.»
« Wie hat er sich ihr genähert?»
«Indem er Blumen und
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