Gondeln aus Glas
Theaterkulissen.
Er wandte sich ab und setzte sich wieder hinter seinen Schreibtisch, um sich Notizen für den Bericht an Spaur zu machen. Als er die Stahlfeder in das Tintenfass tauchte, stellte er fest, dass die Euphorie, die er bei dem Gedanken, die Kopie kurzerhand zum Original zu erklären, empfunden hatte, verschwunden war. Würde der Sergente, gefangen in den Niederungen der Kriminaltechnik, in der Lage sein, diesen Gedankengängen zu folgen? Dass die Unterscheidung zwischen echt und unecht unter höheren Gesichtspunkten ins Wanken geriet, würde ihm vermutlich nicht einleuchten. Sergente Bossi glaubte an Tatortfotos und Beweisketten, er an das Recht, die Wirklichkeit nach künstlerischen Gesichtspunkten zu deuten – und an die Notwendigkeit, die Königin auf den Ball zu lotsen.
Als Bossi zehn Minuten später Trons Büro betrat, hatte er den tragischen Gesichtsausdruck eines Mannes, der in ungeahnte Abgründe geblickt hatte. Dazu passte sein schleppender Gang, sein desillusionierter Blick und das blaue Auge, das in farblichem Einklang mit seiner blauen Uniform stand. Auch seine Nase, deren Wiederherstellung gute Fortschritte gemacht hatte, schien abermals in Mitleidenschaft gezogen zu sein. Sie stach bergeracmäßig aus Bossis Gesicht hervor und verlieh seiner Erscheinung einen Einschlag ins Dramatische.
Tron riss erschrocken die Augen auf. «Was ist passiert, Sergente?»
«Ich hatte gestern Abend eine dienstliche Verabredung mit Signorina Alberoni», sagte Bossi. «In einem Café an der Piazza Santa Margherita.»
Tron hielt die Situation für ungeeignet, den dienstlichen Charakter dieser Verabredung zu erörtern. Er beugte sich fürsorglich auf seinem Stuhl nach vorne. «Und?»
«Sie ist nicht erschienen», sagte Bossi verdrossen.
«Stattdessen kam Signor Alberoni.»
Tron räusperte sich. «Ihr Bruder?»
Bossi seufzte und verdrehte die Augen. «Ihr Mann.»
«Wussten Sie, dass die Signorina verheiratet war?
Dass sie in Wahrheit eine Signora war?»
«Nein, Commissario.»
«Und was wollte Signor Alberoni?»
«Er ist an meinen Tisch gekommen und hat mich gefragt, ob ich Sergente Bossi bin.»
«Waren Sie in Uniform?»
Bossi schüttelte den Kopf. «Ich war in Zivil. Es war nicht direkt eine dienstliche Verabredung. Eher eine halbdienstliche.»
«Und als Sie Signor Alberoni bestätigt haben, dass Sie Sergente Bossi sind?»
«Sagte er in unhöflichen Worten, dass ich seine Frau in Ruhe lassen solle.»
«Und dann?»
«Hat er mir eine verpasst und ist gegangen», sagte Bossi.
Tron wies auf die Fotografien, die Bossi auf seinem Schreibtisch abgelegt hatte. «Haben Sie anschließend Tatortfotos gemacht?»
Bossis Miene besagte deutlich, dass er den Wunsch hatte, das Thema zu wechseln. «Es handelt sich um Tatortfotos aus San Pantalon», sagte er. Und dann, ohne Pause: «Ich habe vor den eigentlichen Tatortfotografien zwei Fotografien des Altars aus größerer Entfernung gemacht. Um auszuprobieren, wie weit das Licht der Petroleumlampen reicht, wenn man sie im Mittelgang aufstellt.»
Der Sergente schob eine Fotografie über den Tisch – einen Abzug, wie er sie nannte. Tron erkannte am linken und rechten Rand der Fotografie die Seitenwände des Kirchengestühls, darunter, ebenso gestochen scharf und auch noch gut beleuchtet, das übliche Schachbrettmuster der venezianischen Kirchenfußböden. Der Rest des Bildes versackte in der bräunlichen Dunkelheit des Hintergrunds.
«Diese Fotografie», fuhr Bossi fort, «ist vom Mittelgang der Kirche aufgenommen worden. Der Altar und die Trümmer des Gerüstes sind kaum zu erkennen, aber dafür ist mir etwas anderes aufgefallen. Am vorderen Bildrand rechts.»
Tron runzelte die Stirn. «Und was genau ist Ihnen aufgefallen, Bossi?»
«Dass die kleine hölzerne Volute an der Seitenwand des Kirchengestühls abgebrochen ist», sagte Bossi.
Tron setzte seinen Kneifer auf und sah, dass der Sergente Recht hatte. Eine kleine, schneckenförmige Schnitzerei am oberen Abschluss der Seitenwand war abgebrochen. Er konnte die schartige Bruchstelle deutlich erkennen. «Ich sehe nicht ganz, worauf Sie hinauswollen.»
Bossi lehnte sich nach vorne und lächelte selbstgefällig. «Auf eine belastbare Indizienkette, Commissario.»
Der Sergente konnte es nicht lassen. «Ich will darauf hinaus», fuhr Bossi fort, «dass diese Volute an dem Abend abgebrochen ist, an dem Pater Terenzio zu Tode kam. Auf der Fotografie geht das ein wenig unter, aber die Bruchstelle der
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