Gondeln aus Glas
einen Blick auf die große Uhr, die links von ihm an der Wand hing. «Wann kann ich Ihren Bericht haben?»
Tron sagte: «Wenn Dr. Lionardo die Leiche ob duziert hat, ergeben sich vielleicht neue Erkenntnisse. Ich könnte einen vorläufigen Bericht am Ende der Woche vorlegen.»
«Sie haben meine Frage nicht verstanden, Commissario.» Spaur nahm sich ein weiteres Marzipanherz aus der hellblauen Pappmachégondel. «Ich will einen Bericht über diesen wohl situierten Herrn.»
Als Tron die Tür hinter sich schloss, fiel ihm ein, dass Spaur kein Wort von der Novelle gesagt hatte.
Wenigstens etwas.
30
Auf dem Weg in sein Büro musste sich Tron eingestehen, dass die Lösung des Kostolany-Falls, wie er sie Spaur präsentiert hatte, eine fatale Ähnlichkeit mit dem Canaletto besaß, den Sivry heute Vormittag an diese verrückte Signora verkauft hatte: eine plumpe, aber gefällige Fälschung. Dass Spaur die Lösung des Falles akzeptiert hatte, besagte nichts. Der Polizeiprä sident war schon zufrieden, wenn Troubetzkoy nicht mehr unter Beschuss stand, und außerdem beschäftigten ihn im Moment ganz andere Fragen.
Im Grunde, dachte Tron, der inzwischen ein Stockwerk tiefer hinter seinem Schreibtisch Platz genommen hatte – im Grunde waren der einzige Beweis für die Täterschaft Pater Terenzios zwei Buchstaben im Terminkalender von Kostolany – zwei Buchstaben, die ebenso gut für Pjotr Troubetzkoy stehen konnten, der nie abgestritten hatte, dass er Kostolany an diesem verhängnisvollen Abend besucht hatte.
Das war bei Lichte betrachtet alles ein bisschen dünn, obwohl andererseits, überlegte Tron weiter, keineswegs auszuschließen war, dass sich die Angelegenheit tatsächlich so zugetragen hatte. Jedenfalls gab es kein überzeugendes Indiz, das gegen eine Täterschaft Pater Terenzios sprach. Perfekt, dachte Tron, wäre es gewesen, wenn Pater Terenzio (unter der windigen Voraussetzung, dass er der Täter war) nicht eine Kopie, sondern das Original an Kostolany verkauft hätte. Dann könnte er der Königin das Original überreichen, und diese würde sicherlich – hocherfreut über seine effiziente Polizeiarbeit – auf den Ball kommen.
Plötzlich fiel Tron wieder ein, was die Principessa über Sivry gesagt hatte, über ein mögliches Interesse des Kunsthändlers, einen echten Tizian als Fälschung zu deklarieren, um ihn billig erwerben zu können.
Tron hatte gute Gründe, diese Variante kategorisch auszuschließen, aber wenn man den Gedanken ein wenig weiterspann, fand Tron, dann zeigte sich auch hier, wie fein und fast unsichtbar die Linie war, die zwischen einer Kopie und einem Original verlief.
Und wie sehr es in solchen Fällen lediglich eine Frage des Standpunktes war, ob es sich bei dem Bild, mit dem man es zu tun hatte, um eine Kopie oder ein Original handelte.
Wenn diese Kopie nach der Küfner-Methode tatsächlich so absolut perfekt war, wie Sivry ihm heute Vormittag erklärt hatte – was sprach dagegen, sie zum Original zu erklären? Spaur würde diese Variante, die ansonsten alles beim Alten ließ, nicht interessieren. Und Alphonse de Sivry? Der würde Verständnis für diese kleine Korrektur der Wirklichkeit haben. Immerhin war dies die Methode, nach der er selbst seine Geschäfte betrieb. Auch war nie die Rede davon gewesen, dass er ein offizielles Gutachten abliefern sollte.
Natürlich würde Sivry dieses Gemälde nicht kaufen – jedenfalls nicht zum Preis eines Originals. Also würde sich die Königin an einen anderen Händler wenden. Dabei standen die Chancen, dass der Betrug unentdeckt blieb – anders als Tron immer gedacht hatte –, gut bis sehr gut. Und wer käme zu Schaden, wenn sich irgendwann herausstellen sollte, dass es sich bei dem Tizian um eine Fälschung handelte?
Fälschung war ein Wort, das die Komplexität der Verhältnisse ohnehin verfälschte. Dann war die Signora Caserta schon lange wieder in Neapel – und hatte vorher den Ball besucht. Natürlich, dachte Tron, das war es. Die absolut perfekte Lösung, passend zur absolut perfekten Kopie. Gewissermaßen das Ei des Kolumbus.
Tron stand auf, zog seinen Gehrock aus und hängte ihn sorgfältig über die Stuhllehne. Dann lockerte er seine Halsbinde und trat ans geöffnete Fenster. Auch in diesem Teil Venedigs hatte die Hitze die Bewohner in die Häuser getrieben, und im harten, mittäglichen Sonnenlicht, fand Tron, wirkten die Hausfassaden auf der gegenüberliegenden Seite des Rio di San Lorenzo seltsam unecht – fast wie
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