Gondeln aus Glas
verlassen haben.» Tron zögerte einen Moment. «Und da wäre noch etwas, Bossi.»
«Ja?»
«Es betrifft den Polizeipräsidenten.» Tron räusperte sich umständlich. Dann sagte er: «Offenbar wird Signorina Violetta wieder von …» Großer Gott – warum war es ihm peinlich, den Sergente mit solchen Dingen zu behelligen?
Aber Bossi hatte ein rein professionelles Verhältnis zu Spaurs speziellen Wünschen. Der Sergente zog lediglich die Augenbrauen hoch. «Belästigt? So wie letztes Jahr von diesem Studenten aus Padua?»
Tron nickte. «Richtig. Nur dass es sich diesmal um einen gut situierten Herrn handelt.»
«Ist sein Name bekannt?»
Tron schüttelte den Kopf. «Leider nicht.»
«Und was schwebt dem Polizeipräsidenten vor?»
«Dass wir die Identität des Herrn feststellen. Und wie oft er Signorina Violetta trifft.»
«Und dann?»
Wie hatte sich Spaur vorhin ausgedrückt? Ja, richtig.
«Dann ekeln wir ihn aus der Stadt», sagte Tron.
31
Das Telegramm aus Brüssel hatte sie beim Frühstück erreicht – zwanzig Zeilen, die ein kleines Vermögen gekostet haben mochten und doch nur das wiederholten, was bereits in dem Brief stand, den sie vor ein paar Tagen erhalten hatte: dass sich die Lage in der Hauptstadt des belgischen Königreiches weiter zuspitze und die Katastrophe ohne den Zustrom frischen Geldes kaum aufzuhalten sei. Geld, dachte Marie Sophie verzweifelt, das sie nur anweisen konnte, wenn der Tizian wieder aufgetaucht war und sie ihn verkaufen konnte – vielleicht an diesen Sivry, den der Commissario beauftragt hatte, festzustellen, ob es sich bei dem Tizian auf dem Schiff des Groß fürsten um das Original handelte. Beim Gedanken an die Überprüfung des Gemäldes stieß sie ein wütendes Lachen aus. Als ob sie nicht bereits genau wusste, was dieser Sivry zu dem Gemälde sagen würde. Allerdings konnte immer noch ein Wunder geschehen.
Marie Sophie, in eine Krinoline aus dunkelrotem Samt gekleidet, was ihrem klaren Gesicht einen ebenmäßigen Ton und ihrem Haar eine harmonische Dunkelheit verlieh, erhob sich von ihrer Chaiselongue und trat vor den Spiegel. Sie sah alt aus, fast wie eine Frau von dreißig Jahren, dachte sie resigniert, als sie die dunklen Schatten unter ihren Augen bemerkte. Dann trat sie einen Schritt zurück, drehte sich leicht zur Seite und stellte plötzlich fest, dass sie genau diese rote Krinoline getragen hatte, als sie sich zum ersten Mal begegnet waren.
Merkwürdig, wie das, was sich anschließend zugetragen hatte, in ihrer Erinnerung auf ein paar Stationen zusammenschnurrte: zuerst die tiefen Blicke, danach die – für Außenstehende – zufällig erscheinenden Begegnungen, dann die gemeinsamen Ausritte in der Campagna, schließlich die nächtlichen Zusammenkünfte.
Und am Ende die Entdeckung, was mit ihr geschehen war, dann die überstürzte Abreise in ihre bayerische Heimat, die Monate völliger Abgeschlossenheit. Schließlich ihre Rückkehr nach Rom, um dort ein Leben wieder aufzunehmen, das sie hasste.
Zugleich verachtete sie sich dafür, dass sie nicht die Kraft fand, alles hinter sich zu lassen und fortzugehen.
Wann hatte der Oberst – ausgestattet mit der Witterung eines Außenseiters – begriffen, was sich abspielte? Und wann hatte er beschlossen, sein Wissen für sich zu behalten? Und: Hätte er wohl geschwiegen, wenn sie nicht zufällig erfahren hätte, dass sich hinter der Maske eines Bilderbuchsoldaten etwas ganz anderes verbarg? Dass auch er ein Geheimnis besaß, das er um jeden Preis bewahren musste? Alles, was tief ist, dachte Marie Sophie, liebt die Maske. Sie hatten nie darüber gesprochen, jedoch – Schweigen um Schweigen – ein diskretes System gegenseitiger Hilfestellungen praktiziert. Dass niemand anders als der Oberst sie nach Venedig begleiten würde, um den Tizian zu verkaufen, verstand sich von selbst.
Bisweilen fragte sich Marie Sophie, ob sie wirklich die Einzige war, die das sorgfältig gehütete Geheimnis Oberst Orlows kannte, oder ob es damit so war wie mit unzähligen anderen Dingen, die man in Rom wusste, aber niemals aussprach: dass Franz II.
ein Versager war und dass er den Thron des Königreiches beider Sizilien nie wieder besteigen würde.
Manchmal, dachte Marie Sophie, konnte man den Eindruck haben, dass die Unsummen, die man für den Kampf gegen die Piemontesen ausgab, nur den Sinn hatten, sich über die Vergeblichkeit des Unternehmens hinwegzutäuschen.
Und ging es Oberst Orlow nicht ganz ähnlich?
War nicht seine
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