Gondeln aus Glas
ein paar Tage verlassen?»
Die Königin dachte kurz nach. «Er war ein paar Tage in Florenz.»
Tron versuchte, die nächste Frage in beiläufigem Ton zu stellen. «Was hat der Oberst unmittelbar nach dem Besuch im Palazzo da Lezze gemacht?»
Die Königin brachte ein mattes Lächeln zustande.
«Finden Sie nicht, dass Sie ein bisschen zu weit gehen?»
«Die Leiche von Kostolany ist kurz nach elf gefunden worden. Hoheit haben den Palazzo da Lezze zusammen mit Oberst Orlow um halb elf verlassen.
Wenn Königliche Hoheit mir versichern, dass der Oberst diese dreißig Minuten im Regina e Gran Canal verbracht hat, bin ich bereit, mich für diese Frage zu entschuldigen.»
Die Königin seufzte. «Ich wünschte, ich könnte Ihnen diese Versicherung geben.»
«Aber?»
«Oberst Orlow hat sich auf dem Rückweg am Palazzo Grassi absetzen lassen.»
«Hat er einen Grund dafür genannt?»
Die Königin betrachtete ihre Fingernägel, so als würde auf ihnen geschrieben stehen, weshalb Orlow die Gondel am Palazzo Grassi verlassen hatte.
Schließlich sagte sie: «Der Oberst wollte einen Franzosen treffen. Es ging um Waffenlieferungen in die Basilicata.»
«Er hat also jemanden getroffen, der sich vermutlich nicht mehr in der Stadt aufhält. Das ist kein besonders gutes Alibi.»
«Werden Sie den Oberst vernehmen?»
«Wenn er unschuldig ist, wird er Verständnis dafür aufbringen. Wenn er schuldig ist, wird er noch mehr Verständnis dafür aufbringen.»
«Wird er vorgeladen?»
Tron schüttelte den Kopf. «Ich hatte nicht an eine offizielle Vernehmung gedacht. Eher an ein zwangloses Gespräch.»
Der Blick der Königin besagte deutlich, dass sie sich ein zwangloses Gespräch zwischen Tron und Orlow schlecht vorstellen konnte.
«Oberst Orlow ist jeden Nachmittag im Café Quadri», sagte die Königin knapp. «Immer kurz nach vier, wenn die Militärkapelle spielt. Lassen Sie es wie eine zufällige Begegnung aussehen. Und sagen Sie dem Oberst auf keinen Fall, dass ich Ihnen gegenü ber diesen Franzosen erwähnt habe.»
Einen Franzosen, dachte Marie Sophie, als die Tür ihres Salons hinter Tron ins Schloss gefallen war, den Oberst Orlow natürlich nie gesehen hatte. Aber hätte sie dem Commissario sagen sollen, wen der Oberst wirklich getroffen hatte? Hätte sie ihm sagen können, was den Oberst immer wieder in diese Stadt zog? Auch ihr gegenüber gab er nie zu, dass er hier fand, was er suchte, er sprach nur immer von konspirativen Treffen, wobei sie beide genau wussten, aber niemals offen aussprachen, was sich hinter diesem Code verbarg. Die Antwort war: Nein. Es wäre ein Vertrauensbruch gewesen, den sie nicht verantworten konnte.
Und was wäre, überlegte Marie Sophie weiter, wenn der Oberst tatsächlich eine zweite Kopie bei Pater Terenzio bestellt hatte, in der Absicht, sie hier in Venedig zu verkaufen? Wäre irgendjemand zu Schaden gekommen? Der Oberst hatte vor zwei Monaten nicht damit rechnen können, dass sie gezwungen sein würde, selbst einen Tizian an Kostolany zu verkaufen – und hätte wahrscheinlich unter diesen Umständen nicht einmal im Traum daran gedacht, eine Kopie des Gemäldes auf den Markt zu werfen. Aber wenn er es tatsächlich getan hatte?
Ganz auszuschließen war es nicht. Verhielt sich der Oberst seit dem Mord an Kostolany nicht ein wenig eigenartig? Schien er nicht vor irgendetwas regelrecht Angst zu haben? Und hatte sie nicht hin und wieder das Gefühl, als stünde er kurz davor, ihr etwas mitzuteilen?
Jedenfalls glaubte sie nicht, dass der Oberst mit dem Mord etwas zu tun hatte. Unsicher war sie sich allerdings, ob er nicht doch mehr darüber wusste, als er zugab. Aber dann, dachte sie, war es nur eine Frage der Zeit, bis er sie ins Vertrauen ziehen würde.
Marie Sophie trat ans Fenster und sah, wie die Dogana und das Seminario Patriarcale kurze, harte Schatten auf die gegenüberliegende Fondamenta warfen. Die Mittagssonne ließ die Oberfläche des Canalazzo aufblitzen wie poliertes Silber, und absurderweise musste sie an die harte, staubige Erde der Campagna denken.
Sie schloss die Vorhänge, ging zu ihrem Sekretär, öffnete die Klappe und setzte sich nieder, um zu schreiben. Wie immer benutzte sie hellblaues, neutrales Briefpapier, und wie immer kämpfte sie mit den Tränen, während ihre Feder über das Papier glitt.
Der Brief würde harmlos klingen – ein belangloser Geschäftsbrief. Ihre Situation war kompromittierend genug. Es wäre unklug, zusätzliche Spuren zu
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