Gondeln aus Glas
hinterlassen.
32
Tron fand, dass die kaffeetantenhafte Art, mit der Orlow den kleinen Finger beim Anfassen seiner Tasse abspreizte, wenig zum martialischen Auftreten passte, das der Oberst normalerweise an den Tag legte. Die Kuchenportionen, die in seinem Mund verschwanden, waren damenhaft klein, und Orlow hatte die Angewohnheit, ihnen mit einem affektierten Schürzen der Lippen nachzuschmecken. Der Oberst, der seine Kuchengabel so zart und behutsam handhabte, als wäre sie aus hauchdünnem Glas, sah nicht aus wie jemand, der zwei raffinierte und brutale Morde begangen hatte.
Es war kurz nach fünf, und die Militärkapelle auf der Piazza legte gerade eine Pause ein. Sehen konnte Tron die Musiker nicht, denn zwischen ihm und dem Podium wälzten sich ganze Heerscharen von Venezianern, Fremden und kaiserlichen Offizieren vorbei, und wie immer drängte die Menge gefährlich dicht an die Tischreihen der Cafés heran. Fast alle Tische im Quadri waren mit Offizieren der kaiserlichen Armee besetzt. Tron sah die dunkelblauen, mit einer goldenen Knopfreihe versehenen Uniformen der Marineoffiziere, die hellblauen Uniformjacken der Dragonerleutnants, deren rote Hosen in der Sonne leuchteten, und die grünen, auf Taille gearbeiteten Jacken der Ulanenleutnants. Vermutlich, dachte Tron, litt Orlow darunter, dass die Umstände ihn dazu zwangen, neben so viel uniformierter Männlichkeit in Zivil zu sitzen. Der Oberst trug einen dunkelgrauen, etwas schäbig aussehenden Gehrock und zur gestärkten Hemdbrust eine grünliche Schleife, die so groß war, dass man denken konnte, er hätte nach einem Hummeressen vergessen, die Serviette abzunehmen. Weiß der Himmel, was ihn dazu bewogen haben mochte, sich auch noch eine weiße Chrysanthemenblüte ins Knopfloch zu stecken. Orlow sah mehr denn je wie ein russischer Zirkusdirektor aus.
Tron löste sich aus einer Gruppe von englischen Touristen, trat an den Tisch und sagte zu Oberst Orlow: «Ich könnte Sie jederzeit verhaften.» Worauf der Oberst den Kopf von seiner Stampa di Torino hob und Tron entgeistert anstarrte.
«Die Stampa », fuhr Tron lächelnd fort, «ist in Venedig indiziert.»
Orlow entspannte sich wieder. Er lächelte ebenfalls. «Lesen Sie die Stampa, Commissario?»
«Ich überfliege sie», sagte Tron. Er hatte sich an Orlows Tisch niedergelassen. «Die Stampa ist genauso verlogen wie die Gazetta di Venezia .»
«Was die Stampa über den Süden schreibt, ist alles falsch. Aber die Wahrheit steht zwischen den Zeilen.»
«Und die Wahrheit wäre?»
Orlows Lächeln war verschandelt vom Gematsch seiner Sachertorte, das in dunklen Klumpen zwischen seinen Zähnen klebte. «Dass die militärischen Erfolgsmeldungen alle erfunden sind. Was Sie daran erkennen, dass diese Meldungen verdächtig häufig auftauchen. Der offiziellen Version zufolge ist der Süden ja befriedet.»
«Bis auf die immer wieder aufflackernden Aufstände.»
«Aufstände?» Der Oberst, der sich jetzt wieder ganz martialisch gab, versetzte den Resten seiner Sachertorte einen Hieb mit der Kuchengabel. «Die Piemontesen haben hundertzwanzigtausend Mann im Süden stationiert – eine Truppenstärke, mit der sie gegen Österreich marschieren könnten. Der Sü den will sich wieder von Piemont lösen. Hier geht es nicht nur um ein paar vereinzelte Aufstände. Das ist ein Bürgerkrieg, Commissario.»
«Den Sie verlieren werden, wenn es Ihnen nicht gelingt, aus den Briganten ein reguläres Heer zu machen. Und auch dann bezweifle ich, dass Sie gegen den Norden gewinnen.»
«Und warum?»
Tron rückte seinen Stuhl nach vorne, um zwei Leutnants der Innsbrucker Kaiserjäger den Durchgang zu einem frei gewordenen Tisch zu erleichtern. «Weil in diesem Konflikt Vergangenheit und Zukunft miteinander kämpfen», sagte er. «Sizilien heißt Landwirtschaft – Piemont heißt Industrie.» Ihm fiel das Glas der Principessa ein, das seit einem Jahr nicht mehr nach Atlanta verschifft werden konnte. «Deshalb werden auch die Nordstaaten gegen die Südstaaten siegen.»
Orlow hob die Augenbrauen. «Interessiert Sie der Bürgerkrieg der Amerikaner?»
Für den interessierte sich aus geschäftlichen Gründen die Principessa, weil sie den amerikanischen Markt – den Markt der Zukunft – für wichtig hielt.
Tron verfolgte das Geschehen in Amerika eher am Rande. Er sagte: «Der Kriegsausgang dürfte auch Konsequenzen für den Erzherzog haben. Die Nordstaaten stehen auf der Seite von Juárez. Bei einer Niederlage des Südens
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