GONE Lügen
sollte. Er müsste dem Rat Bescheid geben, immerhin hatte er Sam erst gestern zugeredet, nichts zu verheimlichen.
Aber das hie r …
»Was soll ich tun?«, flüsterte Consuela.
»Erzähl vorläufig niemandem davon.«
»Soll ich Astrid holen? Oder Sam?«
Eine vernünftige Frage. Edilio wünschte, er wüsste eine ebenso vernünftige Antwort darauf.
»Geh nach Hause«, sagte er schließlich. »Tut mir leid, dass du das sehen musstest.«
Als sie fort war, starrte Edilio betroffen auf das Din g … den Mensche n … die Leiche. Er dachte an Sam und versuchte sich den Schock auszumalen, den dieser Anblick bei ihm auslösen würde.
In den Monaten seit Drakes Tod, ihrem Sieg über den Gaiaphage und ihrer Regelung mit den Würmern war in der FAYZ so was wie Ruhe eingekehrt.
Edilio hatte das Gefühl, als würde diese brüchige Ordnung, die er mit aufgebaut hatte und von der er geglaubt hatte, sie würde eine Zeit lang halten, gerade wie Sand zwischen seinen Fingern zerrinnen.
Am Ende gewann wohl immer die FAYZ.
Beim Anblick der Leiche geriet Sam ins Schwanken. Er machte einen Schritt zurück und wäre beinahe gestolpert.
Edilio packte ihn.
Sam wurde panisch. Er bekam keine Luft mehr, sein Herz dröhnte wie unter einem Vorschlaghammer und er wäre am liebsten davongelaufen.
»Alles klar?«, fragte Edilio.
Sam brachte kein Wort über die Lippen. Sein Atem ging schnell und stockend wie bei einem Kleinkind, das kurz davor war, in Tränen auszubrechen.
»Komm schon, Mann!« Edilio blickte von der verstümmelten Leiche zu Sam und wieder zurück.
Sam erkannte die grauenhaften Verletzungen sofort wieder. Die Leiche des zwölfjährigen Leonard wies Wunden auf, die Sam nie vergessen würde.
Peitschenhiebe hatten die Haut in Fetzen gerissen.
In den Straßen war es still. Kein Mensch weit und breit. Niemand, der das hier gesehen haben konnte.
»Das war Drake«, flüsterte Sam.
»Drake ist tot.«
Sam packte Edilio fuchsteufelswild am Hemdkragen. »Ich weiß doch, was ich sehe!«, schrie er. »Das war Drake!«
Edilio klaubte in aller Ruhe Sams Finger von seinem Kragen. »Sam, hör mir zu. Es sieht vielleicht danach aus, aber das ergibt keinen Sinn, Mann. Drake ist tot. Er liegt im Minenschacht. Begraben unter Tonnen von Felsen.«
»Das war Drake«, wiederholte Sam.
»Sam, das reicht!«, erwiderte Edilio scharf. »Reiß dich zusammen!«
Sam schloss die Augen und spürte wieder den Schmerz. Die Höllenqualen. Als würde er bei lebendigem Leib verbrannt.
Drakes Peitschenhand, die ihm Schlag um Schlag die Haut abzog.
»Du hast keine Ahnung, wie das ist«, stieß er schließlich hervor.
»Sa m …«
»Du weißt gar nichts. Kapiert? Gar nichts. Und bete zu Gott, dass du es nie selbst erleben wirst.«
In diesem Moment tauchte Taylor auf. Als sie die Leiche erblickte, stieß sie ein Wimmern aus, bedeckte aber sofort den Mund und schlug die Augen nieder.
»Er ist wieder da«, sagte Sam.
»Taylor, bring Sam von hier weg. Bring ihn zu Astrid«, befahl Edilio.
»Aber Sam und Astrid sin d …«
»Tu, was ich sage!«, brüllte Edilio. »Und dann weckst du die anderen Ratsmitglieder. Sie wollen wissen, was los ist? Kein Problem. Sie sollen ihren Arsch aus den Betten bewegen und zu Astrid kommen.«
»Es hört nicht mehr auf«, presste Sam hervor. »Verstehst du, Edilio? Es lässt mich nicht mehr los. Nie mehr.«
»Bring ihn weg von hier«, wandte Edilio sich an Taylor. »Und gib Astrid Bescheid, dass wir eine Sitzung brauchen.«
Achtzehn
15 Stunden, 57 Minuten
»Heute Abend gehen wir los«, stieß Caine hervor. Er fühlte sich unsäglich schwach und spürte jeden einzelnen Muskel. Außerdem keuchte er, als hätte er einen Marathon hinter sich. Dabei war er nur die Treppe zum Speisesaal hinaufgestiegen.
Lauter Symptome des drohenden Hungertods.
Er wollte die erschöpften und ausgemergelten Gestalten zählen, die sich ihm zuwandten, konnte sich die Zahl aber nicht merken. Fünfzehn? Siebzehn? Mehr jedenfalls nicht.
Auf dem Tisch, der einst unter den Bratentellern und Beilagenschüsseln, den Nachtischen und Milchpackungen der Internatskantine geächzt hatte, flackerte die letzte Kerze. Vorbei waren die Zeiten, als dieser Saal vom Stimmengewirr und Gelächter der Schüler erfüllt war. Sie hatten alle so gesund ausgesehen, nicht so ausgezehrt und hässlich wie dieser kümmerliche Rest.
Das war alles, was von der Coates Academy übrig geblieben war, dieser todschicken Privatschule, in die die Reichen ihre schwierigen
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