GONE Lügen
betrachtete das glitzernde Wasser. Auf dem Weg hierher hatte er ein Mountainbike gefunden und war so lange damit gefahren, bis ein Reifen geplatzt war. Danach war er zu Fuß auf der Serpentinenstraße weitergelaufen, die zum Kraftwerk und zu dem Ort führte, wo es passiert war. Dorthin, wo Drake etwas in ihm zerstört hatte.
Sam hatte versucht, darüber hinwegzukommen und wieder der Alte zu werden. Dabei hatte Astrid eine wesentliche Rolle gespielt. Ihm war völlig klar, dass ihn seine Liebe für sie davor bewahrt hatte, vollends in die Verzweiflung zu stürzen. Das und die kalte Gewissheit, dass Drake tot war und er überlebt hatte.
Liebe und Rach e – nette Kombination.
Aber auch die Verantwortung hatte ihn davor bewahrt, einfach aufzugeben. Zu wissen, dass die anderen auf ihn zählten, dass er gebraucht wurde.
Doch jetzt wollte ihm Astrid einreden, dass er nicht mehr gebraucht und, ganz nebenbei gesagt, auch nicht mehr geliebt wurde.
Sam zog das T-Shirt aus und tastete die Wunde an seiner Schulter ab. Als er unter der Haut etwas Hartes und Rundes spürte, klemmte er es zwischen zwei Finger, atmete tief durch und quetschte es aus der Wunde.
Eine Schrotkugel. Er warf sie weg. Ein Pflaster wäre jetzt nicht schlecht, aber er würde sich wohl damit begnügen müssen, die Wunde mit Salzwasser auszuwaschen.
Er beschloss, zum Meer hinunterzusteigen, auch in der Hoffnung, in den flachen Gezeitenbecken zwischen den Felsen etwas zu essen zu finden.
Der Abstieg erwies sich als schwieriger, als er gedacht hatte, aber die körperliche Anstrengung tat ihm gut.
Ich könnte schwimmen gehen, sagte er sich.
So weit rausschwimmen, bis mich die Kraft verlässt.
Oder bis ich die FAYZ-Wand erreicht habe. Das wären zwanzig Kilometer. Die Wand war von hier aus nicht zu sehen. Das war sie aber nie, außer man stand direkt davor. Eine samtgraue und nur scheinbar reflektierende Fläche, die dem Auge Streiche spielte. Soweit sie wussten, ragte sie wie eine Kuppel über die FAYZ, auch wenn es so aussah, als wäre der Himmel noch da und als leuchteten in der Nacht die Sterne.
Ob er es bis zur Wand schaffen würde? Wahrscheinlich nicht. Er war längst nicht mehr so fit wie früher.
Vermutlich würde er nach zwei Kilometern müde werden. Und wenn er es zuließe, würde ihn das Meer nach unten ziehen, ihn verschlucken. Er wäre nicht der Erste, der im Pazifik sein Grab fände.
In der von Felsen übersäten Bucht angelangt, beugte er sich vor, schöpfte Salzwasser und spülte damit die Wunde aus.
Dann fing er an, im seichten Wasser herumzustochern.
Nach einer halben Stunde hatte er eine Handvoll Muscheln, drei kleine Krabben und eine zwanzig Zentimeter lange Seegurke gesammelt. Er legte alles in ein kleines Becken und feuerte dann mit der Handfläche genug Licht ab, um das Salzwasser zum Kochen zu bringen.
Sam setzte sich auf den glitschigen Felsen, klaubte vorsichtig einzelne Stücke aus der heißen Brühe und verspeiste seinen Eintopf aus Meeresfrüchten. Er schmeckte richtig gut. Vielleicht eine Spur zu salzig, was später zum Problem werden könnte, falls er kein Trinkwasser fand, aber köstlich.
Durch das Essen fühlte er sich ein wenig besser. Aber auch durch die Nähe zum Wasser und das Alleinsein. Keiner wollte irgendwas von ihm, es drohte keine Gefahr, der er jetzt sofort und auf der Stelle die Stirn bieten müsste.
Als er plötzlich auflachte, war er selbst verblüfft.
Wann war er zuletzt fröhlich gewesen?
»Ich mach Urlaub«, sagte er zu sich selbst. »Hey, ich genehmige mir eine Auszeit. Mein Handy schalte ich ab und mein BlackBerry lasse ich lieber daheim. Ich werde auch niemandem Löcher ins Fleisch brennen. Und schon gar nicht werde ich mich windelweich prügeln lassen.«
Ein Felsvorsprung versperrte ihm die Sicht auf Perdido Beach. Das war gut so. Sein Blick ruhte auf einer der kleinen Inseln, während in nördlicher Richtung die Landzunge zu sehen war, auf der das Kraftwerk stand.
»Nett hier.« Sam blickte sich um. »Wenn ich jetzt noch eine Kühltasche mit Getränken hätte, wäre es geradezu perfekt.«
Nach einer Weile wanderten seine Gedanken dann doch nach Perdido Beach. Wie ging es ihnen nach dem Feuer? Lief Zil immer noch frei herum?
Und Astrid? Was tat sie wohl gerade? Wahrscheinlich die anderen herumkommandiere n – wie immer.
Sich Astrid vorzustellen, tat ihm nicht gut. Er trug zwei Bilder von ihr in sich: Astrid in ihrem Nachthemd, das so lange keusch und tugendhaft blieb, bis sie zufällig
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