GONE Lügen
verdrängen.
Schließlich riss Astrid sich zusammen und beschloss, sich noch einmal nach draußen zu wagen.
»Petey«, sagte sie zu ihrem Bruder. »Komm, wir müssen an die Luft. Gehen wir spazieren.«
Der kleine Pete reagierte nicht.
»Petey. Komm schon. Komm mit.«
Er hob den Kopf, wandte ihr das Gesicht zu und sah sie mit leerem Blick an. Wahrscheinlich hatte er sie nicht einmal registriert, denn schon starrte er wieder auf den Gameboy.
»Petey! Hör mir zu!«
Keine Reaktion.
Astrid war mit zwei Schritten bei ihm, packte ihn an den Schultern und schüttelte ihn.
Der Gameboy schlitterte über den Teppich.
Als Pete sie jetzt ansah, nahm er sie wahr. Sein Mund öffnete sich zum Schrei.
»Petey, es tut mir so leid. Entschuldige bitte!« Astrid hatte ihn noch nie geschüttelt, nie auch nur daran gedacht. Es war völlig unerwartet passiert, als hätte eine in ihr lauernde Bestie die Kontrolle an sich gerissen und sie in Bewegung gesetzt.
Pete begann zu schreien.
»Nein, nein, Petey, nicht! Es tut mir so leid. Ich wollte das nicht.«
Sie legte die Arme um ihn, konnte ihn aber nicht berühren. Als ginge von ihm eine Kraft aus, die sie daran hinderte, seinen Körper anzufassen.
»Petey, nicht. Bitte lass mic h …«
Petes Geschrei steigerte sich zu einem schrillen Kreischen.
»Das war keine Absicht!«, rief sie. »Ich hab die Kontrolle verloren. Ic h … ich kann nicht meh r … Petey, bitte hör auf! Hör endlich auf!«
Sie stürzte zu dem Gameboy und hob ihn auf. Er fühlte sich heiß an. Wie seltsam. Als sie ihn Pete bringen wollte, hatte sie kurz das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Das ganze Zimmer schien zu wackeln und sich um sie zu wickeln.
Das Kreischen ihres Bruders riss sie aus der Benommenheit.
»Sei endlich still!«, schrie sie ihn aus Verwirrung, Angst und Wut an. »Halt endlich den Mund! Da, nimm es, dein blödes Spielzeug!«
Sie trat von ihrem Bruder zurück, weil sie sich selbst nicht mehr traute. Sie spürte einen so starken Hass auf ihn, dass sie fürchtete, wieder die Beherrschung zu verlieren. Selbst jetzt noch flüsterte ihr eine innere Stimme zu: Er ist ein Mistkerl, er macht das absichtlich. Es ist alles seine Schuld.
Pete schrie immer noch.
»Ich tu alles für dich!«
»Aaaaah! Aaaah!«
»Ich füttere dich und wasche dich. Ich passe auf dich auf und beschütze dich. Hör endlich auf! Ich kann nicht mehr! Ich halte das nicht mehr aus!«
Der kleine Pete hörte aber nicht auf. Würde weiterschreien, bis er heiser wäre.
Sie setzte sich an den Küchentisch, verbarg das Gesicht in den Händen und hatte nur noch einen Gedanken: Ich habe einfach alles falsch gemacht.
Vor der FAYZ waren die Misserfolge in ihrem Leben nicht der Rede wert gewesen. Kleinigkeiten, die hauptsächlich mit der Schule zu tun hatten, oder damit, dass sie sich ein paar Leuten gegenüber blöd verhalten hatte.
Doch seit dem Beginn der FAYZ hatte sich das Verhältnis umgekehrt. Seither scheiterte sie ständig.
Sie hatte sich vorgenommen, Petes Therapie wieder aufzunehmen und regelmäßig mit ihm zu üben. Gescheitert. Sie hatte der FAYZ eine Verfassung geben, eine richtige Regierung ins Leben rufen wollen. Gescheitert. Ihr Versuch, Albert daran zu hindern, aus allem eine Geldfrage zu machen. Gescheitert. Schlimmer noch, Albert hatte sich nicht nur durchgesetzt, sondern auch noch Recht behalten. Nicht sie ernährte Perdido Beach, sondern er. Sie war fest entschlossen gewesen, Howards Geschäften mit Drogen und Alkohol ein Ende zu setzen und Zil mit vernünftigen Argumenten dazu zu bewegen, sich endlich wie ein anständiger Mensch zu benehmen. Gescheitert!
Selbst ihre Beziehung mit Sam war in die Brüche gegangen. Er hatte sie im Stich gelassen. Hatte die Schnauze voll von ihr und dem kleinen Pete und überhaupt allem.
In der Stadt kursierte das Gerücht, er hätte die Stadt verlassen und sei fortgegangen. Aber wohin? Darauf wusste die Gerüchteküche zwar keine Antwort, aber alle wussten, wer daran schuld war: Astrid.
Sie hatte sich vorgenommen, den anderen zu beweisen, dass sie dem Job gewachsen war, dass sie klug und richtig handeln würde. Mit dem Erfolg, dass sie jetzt untergetaucht war. Sie war die Ratsvorsitzende einer Stadt, die um Haaresbreite in Schutt und Asche gelegt worden wäre. Perdido Beach war gerettet worden. Aber nicht von ihr.
Der kleine Pete wurde endlich still. Sein ausdrucksloser Blick lag wieder auf dem Gameboy, als wäre nichts geschehen.
Ob er sich noch daran
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