Good Girls
zu reden, laugt meine Mutter völlig aus. Sie geht um halb neun ins Bett. Ich bin so angespannt und aufgewühlt, dass ich mich eine Ewigkeit lang nicht auf meine Hausaufgaben konzentrieren kann. Als ich es endlich schaffe, habe ich das Gefühl, vorübergehend abzutauchen. Die Fakten und Zahlen überfluten mein Gehirn und befreien es von Schmutz und Unrat. Während ich lese, rollt sich Cat Stevens auf meinem Schoß zusammen und schnurrt so heftig, dass ich es bis in die Fingerspitzen spüre.
Stunden später sehe ich auf die Uhr. Nach Mitternacht lege ich mein Buch weg und setze mich an den Computer. Eine Weile lang schmökere ich in den Blogs meiner Freunde und schiebe regelmäßig Cat Stevens beiseite, wenn er mit erhobenem Kopf und Schwanz am Bildschirm vorbeistolziert. Joelle hat öffentlich verkündet, den- oder diejenige umzubringen, der das Foto von mir und Luke gemacht hat. Für sachdienliche Hinweise auf den Täter hat sie eine Einladung zum Mittagessen in einem Restaurant nach Wahl in Aussicht gestellt. Außerdem schreibt sie seitenweise über ihre Mitwirkung bei Hamlet , obwohl sie die Rolle noch gar nicht offiziell bekommen hat. Ash analysiert in ihrem Blog traurige Gedichte. Das bedeutet, dass sie mal wieder ihre Lieblingspunksongs voller wütendem Geschrei hört. Wahrscheinlich sitzt sie gerade inmitten von Rauchschwaden, die sie halbherzig aus dem Fenster fächelt, und zerschneidet die Fotos von Jimmy, die sie noch nicht zerschnitten hat. Oder sie schneidet die Schnipsel in noch kleinere Stücke.
Ich habe nicht mehr so viele Nachrichten wie am Anfang und aus irgendeinem Grund bin ich in der Lage, sie zu lesen. Es ist immer noch der gleiche Mist. Aber es ist, als würden sie über ein anderes Mädchen reden. Über Pam Markovitz oder Cindy Terlizzi oder so. Sie machen mich nicht einmal wütend. Ich muss an Ash denken, wie sie mich fassungslos gefragt hat: »Bist du nicht wütend? Willst du nicht wissen, wer das war?« Ich frage mich, warum ich nicht wütend bin und warum ich mich nicht länger als zwei Sekunden damit befassen will. Warum habe ich keine Liste mit Verdächtigen erstellt? Warum habe ich, als ich von dem Foto erfahren habe, als Erstes an meinen Geschichtetest gedacht? Eigentlich müsste ich wütend sein. Oder wenigstens irgendetwas anderes.
Irgendjemand hat mir für alle Fälle noch mal das Foto geschickt, und ich kann nicht anders, als es anzustarren. Auf meinem Computerbildschirm ist es gestochen scharf. Ich kann selbst kaum glauben, dass ich das bin. Ich hatte noch nie zuvor so etwas getanund es auch noch nie gewollt. Dass ich überhaupt wusste, wie es geht, lag nur daran, dass Ash und ich einmal im Internet nach einer Anleitung gefahndet haben. Damals hatte es Ash an einer Limoflasche ausprobiert. Damals. Als sie noch alberne Sachen machte und sie und Jimmy noch glücklich verliebt waren.
Ich berühre meine Lippen, so wie man seine Lippen nach einem Kuss berührt. So, wie ich meine Lippen berührt hatte, nachdem Luke mich zum ersten Mal auf Ashs Sommerparty geküsst hatte. Ich kann mich immer noch an den salzigen Geschmack in meinem Mund erinnern. Aber ich kann das Foto einfach nicht mit mir in Verbindung bringen: das lange, glänzende, schwarz-blond gestreifte Haar, die entblößte, matt schimmernde Haut im Halbdunkel. Ich betrachte Lukes Hände, die in die Bettdecke gekrallt sind. Als fürchtete er, dass etwas Ungeheuerliches passieren könnte, wenn er sich nicht festklammerte und regungslos dasaß. Als würde er sonst an die Decke schweben. Oder aus dem Fenster fliegen. Oder in Milliarden Atome zerfallen und sich in Luft auflösen.
Mein Blick wandert von dem Foto zur Ecke meines Zimmers, in die ich die Tasche mit der Haarfarbe geworfen hatte. Dann wieder zu dem Bild. Tasche, Bild, Tasche, Bild.
Stimmt, ich müsste wütend sein. Oder traurig. Irgendetwas. Ich springe vom Stuhl auf, schnappe mir die Tasche und gehe ins Badezimmer.
Warm, wärmer, am wärmsten
In meiner Schule sind die DeSalvio-Brüder legendär. Zuerst kam Jeff, Lukes vier Jahre älterer Bruder. Jeff war der größte der drei. Er hatte weizenblondes Haar, mitternachtsblaue Augen und einen unglaublich knackigen Hintern. Die Mädchen – und angeblich sogar mehr als eine Lehrerin – stürzten sich förmlich auf ihn, wenn er nur den Flur entlangging. Aber Jeff war ein netter Kerl, der es ernst meinte. Die letzten drei Schuljahre ging er mit einem hübschen, wenn auch nicht umwerfend schönen Mädchen namens Anna
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