Good Girls
dass sie vergisst, welche Mathematikaufgabe sie gerade lösen will. Manchmal trifft es auch Renee Ostrom, aus dem bestimmt mal ein talentierter, aber mittelloser Künstler wird. Der reißt dann ein Blatt Papier aus seinem Block und zeichnet eine Skizze von Chilly. Mit Pfeilen, die seinen Kopf durchbohren, oder einem Messer im Herzen oder einem zerstückelten Gesicht wie bei Picasso.
Nachdem Chilly etwa fünf Minuten lang versucht hat, mich zu provozieren, klingelt es. Ich bin heilfroh, dass wir in Mrs Sayers Lernstunde nicht reden dürfen. Im Raum ist es vollkommen still. Nur gelegentlich hört man das leise Rascheln von Seiten, die umgeblättert werden. Wir alle hören, wie Cindy Terlizzis Handy vibriert. »Telefon!«, rufen wir im Chor.
»Miss Terlizzi«, sagt Mrs Sayers, die gerade mit großer Konzentration fein säuberlich Bücher in die Regale zurückstellt. »Sie wissen genau, dass Sie Ihr Handy während des Unterrichts ausschalten sollen.«
»Kann schon sein«, sagt Cindy Terlizzi. Mrs Sayers wirft ihr einen strengen Blick zu und Cindy fügt hinzu: »Ja, ich weiß.«
»Dann machen Sie es bitte aus«, sagt Mrs Sayers spitz. Sie greift nach dem Ende ihres Seidenschals und schlingt es sich energisch um den Hals, während sie darauf wartet, dass Cindy gehorcht.
Cindy kramt in ihrer Tasche nach dem Handy und klappt es auf. Sie drückt ein paar Tasten und dasHandy zirpt wie ein kranker Vogel. Wir wissen alle, dass sie wahrscheinlich eine SMS bekommen hat und sich darauf verlässt, dass Mrs Sayers’ Handy zu den altmodischen Modellen gehört.
»Ich sagte Ausmachen«, befiehlt Mrs Sayers.
»Mache ich doch gerade«, erklärt Cindy und schüttelt den Kopf. Als wäre Mrs Sayers eine verkalkte, alte Oma, die keinen Schimmer von modernen Kommunikationsgeräten hat. Sie wirft noch einmal einen kurzen Blick auf ihr Display, dann reißt sie ungläubig die Augen auf und schlägt sich die Hand vor den Mund. Sie sieht auf. Ihr Blick wandert zu mir und ein Lächeln huscht über ihre Lippen.
Sie ist so abgelenkt, dass sie Mrs Sayers völlig vergessen hat. Und auch, dass die Lehrerin flink wie ein Wiesel sein kann, wenn es sein muss. Mit wehendem Schal ist sie blitzschnell bei Cindy und schnappt ihr das Handy weg. »Was für ein schönes, kleines Spielzeug«, sagt sie.
»He!«, protestiert Cindy. »Geben Sie mir sofort mein Handy wieder!«
Mrs Sayers wirft einen Blick auf das Display. Ihre Augenbraue schnellt nach oben. Sie drückt willkürlich auf einige Tasten und das Handy summt. »Wirklich hübsch«, sagt sie und gibt es Cindy zurück.
Cindy verzieht schmollend den Mund. »Sie haben es gelöscht!«
»Ach herrje, tatsächlich?«, fragt Mrs Sayers. »Das tut mir wirklich leid. Ich hoffe, es war nichts Wichtiges.«
Cindy streckt Mrs Sayers hinter ihrem Rücken die Zunge raus, sagt aber nichts. Mrs Sayers wirft mir einen langen Blick zu, und mir wird klar, dass die Nachricht auf Cindys Handy etwas mit mir zu tun haben muss. Wahrscheinlich etwas über die Party. Über Pam oder Luke. Von mir aus konnten sie ihn haben. Sollten sie doch alle bei ihm Schlange stehen.
Chilly entgeht natürlich nichts. Sein Blick wandert von Cindy zu Mrs Sayers zu mir. Von mir zu Mrs Sayers zu Cindy. Als er den Mund aufmacht, um etwas Fieses und Radioaktives und Widerliches zu sagen, komme ich ihm zuvor: »Ein Wort von dir und du bist tot!«
Chilly sieht mich an, als wüsste er überhaupt nicht, wovon ich rede, und will gerade etwas erwidern, als Mrs Sayers sagt: »Ganz recht, Mr Chillman. Bitte verschonen Sie uns mit Ihren Kommentaren. Ich kann Ihnen zwar nicht den sicheren Tod versprechen, aber ich kann Ihnen zumindest Arrest in Aussicht stellen. Und das ist, soviel ich weiß, ein bisschen wie sterben. Nur ganz, ganz langsam.«
Alle vertiefen sich wieder in ihre Bücher, um nicht zu lesen, nicht zu lernen und nicht zu denken. Bis auf mich und einige andere wenige Streber, die Noten für wichtig halten. Zuerst kann ich mich nicht konzentrieren. Doch als die Minuten verstreichen, komme ich langsam wieder zur Ruhe und finde mein Ich wieder: das Ich, das über Notendurchschnitte und Universitätsbewerbungen und Zukunftsplänenachdenkt. Ich blättere in meinem Aufgabenbuch und überprüfe, wie viel Zeit mir noch bleibt, bis ich meine Hausarbeit über Viel Lärm um nichts abgeben muss. Ich mache mir Sorgen um den Geschichtstest und überschlage, wie viele Stunden ich für die nächste Mathematikklausur lernen muss. Das Überprüfen und
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