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Goodbye Chinatown: Roman (German Edition)

Goodbye Chinatown: Roman (German Edition)

Titel: Goodbye Chinatown: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean Kwok
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erreichten wir endlich unsere Arbeitsstation am hintersten Ende der Fabrik. Sie war größer als unsere ganze Wohnung. Hier stand ein langer Tisch mit einem turmhohen Stapel gebügelter Kleidungsstücke, die auf Bügel gehängt, sortiert, mit Gürtel oder Schärpen versehen, ausgezeichnet und anschließend in Plastikhüllen verpackt werden mussten. Tante Paula verließ uns mit der Warnung, dass die Lieferung in wenigen Tagen fällig sei und sie von Mama und mir erwarte, dass wir alles rechtzeitig fertig hatten.
     
    Mama beeilte sich, mit dem Aufbügeln der Hosen zu beginnen, und bat mich, einen riesigen Ständer mit Hosen, die bereits auf Bügeln hingen, nach Größe zu sortieren. Sie gab mir einen Mundschutz, ein weißes, rechteckiges Stück Stoff, das man hinter den Ohren befestigte. Aber da wir direkt neben der Dampfbügelabteilung arbeiteten, war es drückend heiß, und ich zog meinen Mundschutz schon nach wenigen Minuten wieder aus, weil ich das Gefühl hatte, keine Luft zu bekommen. Mama trug ihren Mundschutz auch nicht.
    In einer Mülltonne entdeckte ich eine zerknitterte chinesische Zeitung und holte sie heimlich heraus. Irgendwie trösteten mich die vertrauten Schriftzeichen. Ich breitete die Zeitung neben mir auf einem Hocker aus, bevor ich mich ans Sortieren machte.
    Nach weniger als einer Stunde in der Fabrik waren meine Poren komplett mit Fabrikstaub verstopft. Ein rotes Adernetz breitete sich auf meinen Armen aus, und als ich versuchte, mich sauber zu reiben, entstanden kleine Schmutzröllchen, die an den feinen Härchen meiner Haut ziepten. Mama wischte ständig den Tisch ab, auf dem sie arbeitete, aber innerhalb weniger Minuten hatte sich wieder eine Schicht abgesetzt, die dick genug gewesen wäre, um Strichmännchen darin zu zeichnen, wenn ich die Zeit dazu gehabt hätte. Sogar der Boden war rutschig vor Staub, und bei jeder Bewegung bildeten sich Staubmäuse, die verloren um meine Füße tanzten.
    Auf einmal sogen meine Nasenlöcher neben dem Gestank des Polyesters noch einen weiteren Geruch ein. Als ich mich umdrehte, stand neben mir ein Junge. Er war ungefähr so groß wie ich und trug ein altes weißes T-Shirt, aber die Spannung in seinen Schultern und Armen verriet mir, dass er eine Kämpfernatur war. Seine Augenbrauen waren buschig und
bildeten eine durchgehende Linie, und darunter strahlten seine Augen in einem überraschend intensiven Goldbraun. Er kaute an einem Brötchen mit Schweinebraten herum, dessen Kruste knusprig glänzte. Fast spürte ich den Geschmack des süßen, saftigen Fleischs im Mund.
    »Du kannst noch Chinesisch lesen«, stellte er fest und wies mit dem Kopf auf die Zeitung.
    Ich nickte und verschwieg, dass das auch schon alles war, was ich lesen konnte.
    »Ich hab alles vergessen. Wir sind schon seit fünf Jahren in Amerika.« Er gab mächtig an. »Du musst ganz schön schlau sein, wenn du lesen kannst und so.« Es war kein Kompliment, sondern eine Frage.
    Ich beschloss, ehrlich zu sein: »Zumindest war ich das mal.«
    Darüber dachte er einen Moment nach, bevor er fragte: »Willst du ein Stück?«
    Ich zögerte. Es ist unchinesisch, das Essen anderer Leute anzurühren. Kein Kind in Hongkong hatte mir je etwas zu essen angeboten.
    Der Junge wedelte mit dem Brötchen unter meiner Nase herum. »Komm schon«, ermutigte er mich. Er brach ein Stück ab und hielt es mir hin.
    »Danke«, sagte ich und steckte es in den Mund. Es schmeckte genauso köstlich, wie es gerochen hatte.
    »Du darfst mich aber nicht verraten«, sagte er mit vollem Mund. »Ich habe es in Hundefloh-Mamas Abteilung stibitzt.«
    Verwirrt und erschrocken starrte ich ihn an. »Wessen Abteilung?« Ich hatte meinen Anteil der Beute bereits hinuntergeschluckt.
    »Na, beim Feldwebel.« Feldwebel heißt bei uns jede tyrannische, höher gestellte Person.
    Ich muss immer noch verwirrt ausgesehen haben.
    Er seufzte. »Hunde. Floh. Mama. Du musst sie doch gesehen haben.« Er kratzte sich am Hals, eine perfekte Parodie von Tante Paulas Tick.
    Ich schnappte nach Luft. »Das ist meine Tante!«
    »Oje!«, rief er mit aufgerissenen Augen.
    Ich musste lachen, und er stimmte ein.
    »Normalerweise klaue ich nicht, weißt du. Mir macht es nur Spaß, sie zu ärgern. Besuch mich doch bei den Fadenabschneidern, wenn du Pause hast. Ich heiße Matt«, sagte er.
     
    Als Mama mich später drängte, eine Pause zu machen, schlich ich vorsichtig zum Tisch der Fadenabschneider. Die winzigen alten Damen und die kleinen Kinder waren damit

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